Sibirien - Opernhaus - Kultur Nr. 177 - April 2023

Berührende Zeitreise in eine ferne Heimat

Im Hintergrund erklingt ein russisch-orthodoxer Choral. 1992 entschließt sich eine alte Frau in Rom, dorthin zu fahren, wo ihr Leben begann. Ständiger Begleiter ist eine Urne mit der Asche ihres Bruders. Der russische Regisseur Vasily Barkhatov, seit einigen Jahren als neuer Star an etlichen europäischen Bühnen begehrt, hat eine filmische Rahmenhandlung zu der fast völlig vergessenen Oper Siberia des italienischen Komponisten Umberto Giordano (1867 – 1948) konstruiert. Der Tarkowski-Fan ­Barkhatov (*1983 in Moskau) ist selbst ein exzellenter Filmemacher. Seine bewegten Bilder verknüpfen sich nahtlos mit dem Bühnengeschehen.
Ein Wunderwerk ist das Bühnenbild von Christian Schmidt. Durch präzise Projektionen erscheinen kostbare Tapeten an den Wänden, später markiert eine riesige Aktenwand das kafkaesk anmutende Dokumentationszentrum der in Sibirien verschollenen Zwangsarbeiter. An der Grenze kontrollieren emsige Behördenmenschen die Ankommenden vor einem großen Propaganda-Wandbild im Stil des sozialistischen Realismus. Dahinter öffnen sich Blicke in die triste sibirische Steppen- und Wasserlandschaft. Die Dekorationen wurden übrigens in den Bonner Werkstätten hergestellt und kamen bereits 2022 bei den Bregenzer Festspielen zum Einsatz, wo die Inszenierung als Koproduktion mit dem Theater Bonn erstmals gezeigt wurde.
Großartig verkörpert die schwedisch-ungarische Sängerin Clarry Bartha, die einst in der Bonner Oper in großen Partien glänzte, im Film und auf der Bühne die alte Frau. Sängerisch ist das eine kleinere Partie, in die u. a. Passagen aus der Nebenrolle der „Fanciulla“ eingeflossen sind. Schauspielerisch ist ihre ständige Präsenz ein Ereignis, das die emotionale Spannung bis zum Ende trägt. Alle anderen Rollen sind aus dem Bonner Ensemble besetzt. Allen voran Yannick-Muriel Noah als Stephana, die zur Luxuskurtisane aufstieg und für ihre große Liebe Vassili alles aufgab, um an seiner Seite in die Verbannung zu ziehen. Mit ihrem wunderbar beweglichen dramatischen Sopran lässt sie all die Gefühle dieser Frau aufleuchten, die vom verführten armen Mädchen bis zur liebevollen Mutter und zur Heroine des entbehrungsreichen Lebens im Straflager reichen. George Oniani mit seinem strahlenden Heldentenor ist der naive junge Offizier Vassili, der durch ein Eifersuchts-Scharmützel mit Stephanas Liebhaber Fürst Alexis seine Soldatenehre verliert und nach ­Sibirien verbannt wird.
Grandios spielt und singt der Bariton Giorgos ­Kanaris den Zuhälter Gleby, der die junge Stephana in die Prostitution trieb, viel Geld und Ansehen mit seinem Lustobjekt erwarb und schließlich ebenfalls zur Lagerhaft in Sibirien verurteilt wurde. Doch die treue Stephana, die mittlerweile zwei Kinder mit Vassili hat, weist seine erneuten Avancen und Fluchtpläne ab und wehrt sich selbstbewusst gegen seine folgenden Denunziationen. Die Flucht mit ihrem Gatten scheitert, Stephana stirbt durch einen Schuss der Lageraufsicht in Vassilis Armen. Endlich am Ziel ihrer Reise angekommen, legt sich die alte Frau, die zuvor schon die Asche ihres Bruders auf einem verschneiten Spielplatz zwischen verkommenen Beton-Hochhäusern aus der Sowjet-Ära verstreut hat, in eine Felsenmulde zu ihren Eltern.
Auch die kleineren Partien sind hervorragend besetzt. Der Tenor Santiago Sánchez brilliert in eleganter Militäruniform (Kostüme: Nicole von Graevenitz) als charmanter Fürst Alexis. Susanne Blattert überzeugt als Vassilis ehemalige Amme Nikona. Sibirien – das Libretto schrieb Luigi Illica, der auch den Text für Puccinis Madama Butterfly verfasste, die kurz nach Giordanos im Dezember 1903 an der Mailänder Scala uraufgeführter Oper am selben Ort herauskam – ist eine große Herausforderung für den von Marco Medved einstudierten Chor und Extrachor, die ihre Aufgabe vorzüglich meistern. Fabelhaft musiziert auch das Beethoven Orchester unter der inspirierten Leitung von Daniel Johannes Mayr. Als Leitmotiv taucht immer wieder das Lied der Wolgaschlepper auf, das jedoch erst später zum populären Kosakenchor-Hit wurde.
Giordanos Siberia ist musikalisch zweifellos eine Wiederentdeckung wert. Dass die vielschichtige Inszenierung unbedingt einen Besuch lohnt, bestätigte der Beifallsjubel bei der Bonner Premiere. Generalintendant Helmich verriet danach schon mal, dass Barkhatov in der nächsten Saison hier Tschaikowskis Eugen Onegin auf die Bühne bringen wird. Man darf sich nach seinem Bonner Regie-Debüt darauf freuen. E.E.-K.
Spieldauer ca. 2 ¼ Stunden, inkl. Pause
Die weiteren Termine:
31.03. // 2.04. // 20.04. // 3.06. // 9.06.23

Montag, 01.05.2023

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