Ein Maskenball - Opernhaus - Kultur Nr. 175 - Januar 2023

Alles nur großes Theater

Riccardo, Graf von Warwick und britischer Gouverneur von Boston, hat sich bei seiner morgendlichen Audienz einen makabren Spaß erlaubt. Wie eine Trauerfigur liegt der Page Oscar auf einem großen schwarzen Sarkophag. Doch dann entsteigt sein Herr quietschlebendig dem Totenschrein. Das Leben ist Theater, überall an den Wänden im Bühnenbild von Raimund Bauer gibt es unzählige kleine Proszenien und Logen. Alles wird beobachtet, überall lauern Mit- und Gegenspieler. Nichts ist Wirklichkeit, es gibt nur das allgegenwärtige Theater. Riccardo mit einem roten Büchlein in der Hand übernimmt anscheinend selbst die Dramaturgie in dem dreiaktigen Melodramma über politische und private ­Ver­wicklungen. Das ist ein Geniestreich des britischen Regiestars Sir David Pountney, der damit seine dreiteilige „Verdi-Maschine“ auf Hochtouren treibt. Die Koproduktion mit der Welsh National Opera wurde in Cardiff bereits gezeigt. In Bonn folgt auf die Sizilianische Vesper in der Spielzeit 2018/19 nun (durch Corona verspätet) Ein Maskenball. Die Trilogie wird später noch komplettiert durch die Macht des Schicksals.
Vorbild der Figur des Riccardo ist der schwedische König Gustav III., der 1792 bei einem Maskenball in dem von ihm zehn Jahre zuvor errichteten Stockholmer Opernhaus von dem Grafen Anckarström mit einer Schrotpistole angeschossen wurde und knapp zwei Wochen später an den Folgen des Attentats starb. Der aufgeklärte Monarch liebte das Theater über alles, trat gern in exzentrischen Verkleidungen auf und war – wie der Hofklatsch behauptete – bisexuell. Bei seinem Volk, dem er neue Rechte zugestand, war er beliebt. Beim Adel, dessen Privilegien er massiv beschnitt, war er verhasst, so dass jener sich zu einer Revolte verschwor. Weil ein Königsmord auf offener Bühne die italienische Zensur auf den Plan rief, mussten Verdi und sein Librettist Antonio Somma die Handlung der Oper Un ballo in ­maschera, ein Auftragswerk der Oper von Neapel, ins ferne Boston/Massachusetts jenseits des Atlantiks verlegen. Was jedoch auch nichts half: Neapel lehnte ab, Rom sprang ein. Die Uraufführung im Februar 1852 am römischen Teatro Apollo wurde ein triumphaler Erfolg. Pountneys Inszenierung holt den Stoff an seinen historischen Tatort zurück. Bei der Huldigung des Herrschers marschiert das Volk mit schwedischen Flaggen auf, selbst wenn das Ganze mitunter wie ein Hollywood-Gruselkrimi anmutet. Die von Marie-Jeanne Lecca entworfenen schwarzweißen Kostüme im Stil des späten 18. Jahrhunderts verweisen auf die Epoche König Gustavs.
Der international renommierte philippinische Tenor Arthur Espiritu gibt bei seinem Debüt an der Bonner Oper einen Riccardo, der von stimmlicher Brillanz bis zu schauspielerischer Raffinesse alles mitbringt für diese Partie. Das langjährige Ensemble-Mitglied Giorgos Kanaris ist mit seinem eleganten Bariton als Renato das perfekte Pendant zu der schillernden Persönlichkeit Riccardos. Als treuer Freund und scheinbar betrogener Ehegatte bleibt er ein Mann von Ehre, der standhaft den Demütigungen trotzt, bis er nicht mehr anders kann, als mit den Verschwörern zu handeln. Yannick-Muriel Noah mit ihrem voluminösen Sopran singt und spielt die zwischen den beiden Männertypen hin- und hergerissene Amelia grandios. Verzweifelt kämpft sie gegen ihre verbotene Liebe und erträgt tapfer alle Gemeinheiten der gegen Riccardo Verbündeten. Der romantische Vollmond über dem Galgenberg, wo sie nach Ulricas Geheiß das Heilkraut gegen ihr Gefühl pflückt, erscheint dennoch wie eine künstliche Kulisse für das Traumduett zweier vergeblich Liebender. Mit der Arie, in der Amelia als Mutter um den Abschied von ihrem Kind fleht, muss sie jedes versteinerte Herz erweichen. Renatos Rache wendet sich danach gegen den vermeintlichen Nebenbuhler. Ohne zu ahnen, dass dieser bereits auf Amelias Liebe verzichtet und Renato mitsamt seiner Familie in die englische Heimat zurückbeordert hat.
Die Sopranistin Lada Bocková ist als zwielichtiger androgyner Oscar stets an Riccardos Seite, um seinem Spiel mit dem Tod dienstfertig zu ­assistieren. Die aus Georgien stammende Mezzosopranistin Nana Dzidziguri als geheimnisvolle Wahrsagerin Ulrica (ein historisches Vorbild gab’s zu Gustavs Zeit tatsächlich in Stockholm) taucht mit tiefer Stimme und weißer Perücke in prophetische Abgründe und geistert gespenstisch durch die Kulissen. Riccardo schaut von einem Sitz in seinem Theater ihrer düsteren Séance zu und macht zum Spaß selbst Wahrheit aus einem ihrer Zaubersprüche. Silvano, gesungen von dem neu als Ensemble-Mitglied fest engagierten Bariton Carl Rumstadt, darf sich freuen über unerwartetes Glück.
Exzellent besetzt sind auch die Bass-Partien der beiden Verschwörer Sam (Andrei Nicoara) und Tom (Martin Tzonev).
Fabelhaft agieren Chor und Extrachor, musikalisch wie immer perfekt einstudiert von Marco Medved, in der beeindruckenden, manchmal auch komischen Choreografie von Michael Spenceley. Ein großes Lob verdient auch die Statisterie unter der Leitung von Gyla Löcher. Musikalisch konzentriert bis in feinste thematische Verästelungen ausgeleuchtet wird alles von Will Humburg am Pult des wunderbar transparent spielenden Beethoven Orchesters. Schon bevor sich der Vorhang hebt, erzählt hier die Ouvertüre eine Menge vom Spiel zwischen Illusion und Wirklichkeit. Der Verdi-Spezialist Humburg gab übrigens 2009 sein Bonn-Debüt unter der Intendanz von Klaus Weise mit Un ballo in maschera und initiierte hier dann eine ganze Reihe von neuen Verdi-Interpretationen.
Beim finalen Maskenball (egal ob in Boston oder Stockholm) wird die Parole „Morte“ geraunt. Die ganze Gesellschaft erscheint in Skelett-Kostümen im blutrot beleuchteten Opernhaus (Licht: Fabrice Kebour, in Bonn neu eingerichtet von Boris Kahnert). Amelia versucht, ihren geliebten Riccardo vor dem geplanten Mordanschlag zu warnen, Renato entlockt Oscar das Geheimnis der abendlichen Verkleidung Riccardos. Die mörderische Spannung steigt, geopfert wird indes nur ein schnell entsorgtes Riccardo-Double. Der Theaterherrscher verkündigt eine ­General­amnestie und entschwindet wieder in seinen bequem gepolsterten Sarg. War alles nur ein Albtraum oder ein Spiel? Inszeniert von einem Machthaber, der ein Opernheld sein wollte? Ironie der Geschichte: Der wirklich ermordete schwedische Opernfreund Gustav III. wurde durch ein italienisches Meisterwerk lange nach seinem Tod unsterblich. Pountneys Inszenierung mit viel schwarzem Humor und Gruftie-Charme ist ein Ereignis, das man nicht verpassen sollte. Sängerisch und spielerisch auf hohem Niveau und als Denkspiel bemerkenswert. Überzeugter Premierenbeifall mit vereinzelten „Buhs“ für die Regie. E.E.-K.


Spieldauer ca. 2 ¾ Stunden, inkl. Pause
Die weiteren Termine: 25.12.22 // 8.01. // 13.01. // 15.01. // 26.01. // 28.01. // 25.02. // 4.03. // 26.03. // 8.04. // 16.04.23

Noch ein Tipp: Es lohnt sich, etwas früher zu den Aufführungen im Opernhaus zu gehen. Am 8. Dezember eröffnete im Garderobenfoyer der Oper eine Ausstellung zur Forschungsreihe „Fokus’33”, bei der es um die Frage geht, warum Werke von den Spielplänen verschwunden sind. In Kooperation mit der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Uni Köln zeigt Theater Bonn Exponate, die auf die Aufführungshistorie der Fokus’ 33-Werke eingehen. Bis Ende Januar zu Arabella, Leonore 40/45 und Ein Feldlager in Schlesien. Von Februar bis April folgen Exponate zu Li-Tai-Pe, Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny und Asrael. Die Ausstellung ist leider nur zu den Aufführungszeiten und mit gültiger Eintrittskarte zu sehen.

Mittwoch, 01.02.2023

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