Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny - Oper Bonn - kultur 172 - Oktober 2022

Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
Foto: Thilo Beu
Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
Foto: Thilo Beu

Kapitalismussatire trifft Flutkatastrophe

Der Hurrikan macht im letzten Moment einen Bogen um die Vergnügungsstadt Mahagonny, wo alles erlaubt ist außer dem Mangel an Dollars. Die Flutkatastrophe im Juli 2021 vernichtete im Ahrtal und anderen Gebieten der Region um Bonn viele Existenzen und zahlreiche Menschenleben. Der Regisseur Volker Lösch, bekannt für seine politisch provokanten Inszenierungen, hat also Betroffene aus dem Ahrtal nach ihren Eindrücken und Aussichten befragen lassen. Per Video erscheinen die realen Personen als gegenwärtige Intermezzi der Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, was Brecht/ Weills böser Groteske einen eloquenten Aufregungs-Mehrwert verleiht.
Die Uraufführung des Werkes 1930 in Leipzig war einer der größten Theaterskandale der Weimarer Republik und ging beinahe in den Krawallen von gezielt eingesetzten Nazi-Anhängern unter. Als „übelste kommunistische Propaganda“ denunziert, verschwand die Oper lange von den Spielplänen, erlebt aber gerade in den letzten Jahren eine außerordentliche Renaissance. Zuletzt sorgte 2021 die Inszenierung von Barrie Kosky an der Komischen Oper Berlin für kritisches Aufsehen. Nun hat die Oper Bonn zum Saisonbeginn im Rahmen der verdienstvollen Reihe „Fokus ‘33“ das zynische Spiel um den Götzen Mammon neu auf die Bühne gebracht. Optisch sehr opulent, voller bösem Witz, darstellerisch brillant und vor allem musikalisch ein absolutes Highlight.
Das Beethoven Orchester Bonn unter der energisch umsichtigen Leitung von Generalmusikdirektor Dirk Kaftan macht fabelhaft deutlich, wie der Komponist Kurt Weill mit ironischen Signalen das Geschehen kommentiert. Verfremdete Zitate aus weltlichem und geistlichem Barock, wuchtige Choräle, Opernpathos und Operettenschmalz, Charleston, Foxtrott, Jazzelemente – das vermischt sich zu einem vielfarbigen Klangereignis mit überraschenden Einsichten. Großartig präsentiert werden auch die Ohrwurm-Schlager, wie der unverwüstliche „Alabama-Song“ mit seinem originellen Brecht-Englisch und das „Denn wie man sich bettet, so liegt man“ mit der klaren Botschaft: „Und wenn einer tritt, dann bin ich es, und wird einer getreten, dann bist du’s.“ Das gehört zu den Mahagonny-Regeln wie Fressen, Lieben, Boxen (Brecht war übrigens bekennender Boxsport-Fan) und Saufen bis zum Delirium.
Auf der Bühne von Carola Reuther (zusammen mit Miriam Schubach auch für die quietschbunten Kostüme verantwortlich) hängt schräg oben ein riesiger runder Spiegel, der auch als Video-Projektionsfläche dient und manches perspektivisch zu Kenntlichkeit verzerrt. Beispielweise das rhythmische Gerammel in dem runden Pool, in dem später Jack O’Brien (Matthew Peña) bei einem unappetitlichen Kampffuttern das Zeitliche segnet und der schlanke Alaskawolfjoe (Tobias Schabel) im Boxring von dem starken Sparbüchsenbill (Mark Morouse) final k.o. geschlagen wird.
Filmreif ist schon die Eingangsszene, in dem ein von der Polizei verfolgtes Ganoventrio im klapprigen Straßenkreuzer beschließt, in der Wüste eine Stadt zu gründen, in der Männer ihr sauer verdientes Geld in die Taschen der Betreiber von Bars und Bordellen spülen sollen.
Spiritus Rektor des Unternehmens ist die resolute Witwe Leokadja Begbick, eine absolute Glanzrolle für die Mezzosopranistin Susanne Blattert, die seit vielen Jahren zum Bonner Ensemble gehört. Den robus­ten Dreieinigkeitsmoses verkörpert der Bariton Giorgos Kanaris, ebenfalls seit langem im Ensemble. Den windigen Prokuristen Fatty singt der Tenor ­Martin Koch, ausgeliehen von der Oper Köln. Alle Solopartien sind hochkarätig besetzt, aber eindeutige Stars der Aufführung sind der Tenor Matthias Klink als Jim Mahoney und die Sopranistin Natalie Karl als Jenny Hill. Hinreißend singen die beiden (sie sind auch im wirklichen Leben ein Paar) das melancholisch-lyrische „Kranich-Duett“. Nützt aber nichts, denn beim Geld hört die Liebe auf. Auch die Freundschaft. Da kann Jim seine noch verbliebenen Gefährten noch so flehentlich an die guten alten Holzfällerzeiten in Alaska erinnern. Begbick, Fatty und Moses als groteskes Hohes Gericht fällen das Urteil: Jim, der selbst die Parole „Du darfst“ als oberstes Mahagonny-Gesetz etablierte, muss sterben, weil er die Rechnung eines kollektiven Besäufnisses nicht bezahlen kann. Der kleine Mörder Tobby Higgins wird flott freigesprochen, aber für Jim fällt der Hinrichtungsstrang vom Bühnenhimmel.
Der von Marco Medved einstudierte, hervorragend agierende Opernchor, verstärkt durch Damen des Jugendchors, tritt anfangs aus dem Zuschauerraum auf. Begbick mahnt die Herren (verstärkt durch eine Entertainer-Truppe von der Schauspielschule Siegburg) zum respektvollen Umgang mit den Sexarbeiterinnen: „Geld macht nicht sinnlich“. Dass „an einem grauen Vormittag mitten im Whisky“ Gott persönlich erscheint, frech blasphemisch gespielt von Dreieinigkeitsmoses, weckt die konsumgierige Restmannschaft auch nicht mehr aus ihrer eigenen Hölle. Die Preise für die käufliche Lust sinken dramatisch, die lukrativen Sauf- und Sextouristen ziehen fort. Das künstliche Paradies geht ganz ohne biblischen Zorn – alttestamentarisches Vorbild ist die Erzählung von den exemplarischen Sündenorten „Sodom und Gomorra“ – schlicht pleite und versinkt im Chaos wütender Proteste der Verlierer des Spiels ums große Kapital. Auf der mit gipsweißem Requisitengerümpel vollgestellten Drehbühne kreist die postmoralische Zeit noch eine Weile unerbittlich weiter. Fazit: „Können uns und euch und niemand helfen!“ ­War’s das jetzt? Nein: Das Schlusswort live auf der Bühne haben drei Mitglieder der Familie Beiling aus dem Ahrtal, die als Zeitzeugen zur Klimawende auffordern. Das ist einleuchtend und berührend wie all die dokumentarischen Aufnahmen, die den Fluss der pessimistisch absurden Handlung bisweilen mit klugen Interventionen stoppen. Es bleibt jedoch ein irritierender Nachgeschmack von billigem Agitprop-Theater und gutwilliger Instrumentalisierung der tapferen Flutopfer für einen spektakulären Bühnen-Erfolg. Trotzdem entschieden sehenswertes Musiktheater auf sängerischem und darstellerischem Spitzenniveau und bei der Premiere mit Beifallsovationen gefeiert.
Unbedingt lesenswert sind das umfangreiche Programmbuch mit dem Originallibretto und der mitgelieferte 30-seitige Essay des Dramaturgen Stefan Schnabel zur Bonner Produktion. E.E.-K.

Spieldauer ca. 3 Stunden, eine Pause
Die nächsten Termine: 2.10. // 13.10. // 2.11. // 12.11. // 20.11.22

Dienstag, 01.11.2022

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