Bin nebenan - Werkstatt - Kultur Nr.167 - Dezember 2021

Voll im Trend

„Lifestyle-Rebellin“ – das ist nur eins der schönen Produkte aus der an Bonmots reichen Werkstatt der Theaterautorin und Regisseurin Ingrid Lausund (*1965), einer der meistgespielten deutschen Gegenwartsdramatikerinnen. 2002 war in der Halle Beuel schon ihr Supermarkt-Stück Hysterikon über den alltäglichen Konsumwahnsinn zu erleben. Nun haben die Dramaturgin Male Günther und die Regieassistentin Bea Banca, die damit ihre erste eigene Inszenierung präsentiert, drei Episoden aus Lausunds Bin nebenan. Monologe für zuhause ausgewählt. Als Buch erschienen sind die insgesamt zwölf kurzen Einblicke in die Seelenräume der selbstreflexiven Work-Life-Balance-Generation bereits 2008, also lange vor der Pandemie. Dass sie gerade jetzt, wo der Rückzug in die eigenen vier Wände den Selbstverwirklichungstrend vor neue Herausforderungen stellte, auf etlichen deutschen Bühnen auftauchen, ist kein Wunder.
Wunderbar vielschichtig spielt Lydia Stäubli, seit 2013 Ensemblemitglied am Theater Bonn, in der Werkstatt die drei Solominiaturen zwischen Comedy und leicht makabrer ­Schluss­pointe. Mit modischem Haarschnitt erscheint sie im schicken grauen Kurzmantel zu klobigen Stiefeln schwerbepackt mit Einkaufstüten und einer vergoldeten Topfpflanze in einem weltbekannten skandinavischen Möbelhaus. Ärgert sich über das Wegeleitsystem und die sie verfolgenden Marktexperten, denen sie einen Schweizer Akzent verleiht. Das Linda-Sofa würde perfekt in ihre Wohnung passen und ist beinahe schon gekauft. Doch wie wär’s mit dem geschmacklosen roten Horst-Plüschsofa, mit dem man mal seine Individualität mutig beweisen könnte? Rebellisch gegen den Trend! Leider ist genau das voll im Trend. Linda, gehobener Lebensstandard, intelligent und eigenwillig, ist Durchschnitt. Egal was sie sagt und tut: Die Algorithmen der Marktstrategen wissen es besser.
Auf die kabarettreife Nummer folgt die Tiefenentspannung im Bad. Freistehende Wanne mit vergoldeten Rokokofüßen, gefüllt mit goldenen Bällchen. Feines italienisches Ambiente (ein Glasmosaik-Zahnputzbecher, der michelangeloblaue Deckenanstrich). Bühnenbildassistentin Annika Garling hat die beiden Zimmer mit den weißen Vorhängen aus der „Glasmenagerie“ recycelt und auch die Kostüme entworfen. Im schicken roten Badeanzug hockt die Schauspielerin – „Ich bin ganz bei mir“ – im imaginierten Schaumbad. Ein bisschen Yoga noch, schwerer Ylang-Ylang-Wohlgeruch, kleine erotische Fantasien. Vielleicht ein schöner afrikanischer Märchenprinz, möglicherweise auch tauglich als Ebenholz-Handtuchhalter? Doch plötzlich bevölkern sie das kleine Badezimmer: arme, halbverhungerte dunkelhäutige Menschen, die kein Trinkwasser haben und übers Meer nach Europa fliehen. Die Wanne wird zum gefährlichen Gewässer, in dessen Sturzwellen die weiße Frau um ihr Leben schwimmt. Glücklicherweise war alles nur ein kurzer Albtraum, sie wird aber gleich morgen eine Spende für Afrika überweisen.
Am Ende liegt sie im schwarzen Trauerkleid mit einem Reisekoffer leicht verrenkt draußen auf dem Boden. War es ein Unfall, wie die Umrisszeichnung andeutet? „Grundstück“ heißt die finale Szene, in der sie Momente ihres Lebens an sich vorbeiziehen lässt. Nirgendwo zu Hause, Angst vor festen Beziehungen, stets irgendwo „nebenan“. Selbst das mit der letzten Ruhe in der Bretagne hat nicht geklappt. Der romantische kleine Friedhof am Meer war längst ausverkauft. Wie neben sich stehend beobachtet sie ihre eigene Beisetzung irgendwo in der deutschen Provinz. Unsentimental mit einem gehörigen Schuss Sarkasmus. Verdienter herzlicher Beifall für die großartige Lydia Stäubli in dieser sehr unterhaltsamen Monologtrilogie. E.E.-K.

Spieldauer ca. 60 Minuten, keine Pause
Die letzten Termine: 10.12. // 29.12.21

Mittwoch, 01.12.2021

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