Justine Hauer - kultur 136 - Mai 2017

Elisabeth Einecke-Klövekorn trifft Justine Hauer:
Beckchen, Christine und Kassandra

Im vergangenen Jahr feierte das Tatort-Team vom Bodensee seinen Abschied. Von 2002 bis 2016 verkörperte Justine Hauer an der Seite der Konstanzer Kriminalhauptkommissarin Klara Blum (Eva Mattes) und ihres Assistenten Kai Perlmann (Sebastian Bezzel) die Sekretärin Annika Beck, von allen liebevoll „Beckchen“ genannt. Obwohl die 180 cm große Schauspielerin eigentlich nicht für einen Diminutiv taugt und die Serie so mitgeprägt hat, dass fremde Menschen sie auf der Straße mit „Hallo Be­ck­chen“ ansprechen. „Das liegt sicher auch daran, dass die Figur so unbefangen, positiv und nahbar angelegt war.“ Nur in einer Folge war sie wegen ihres Mutterschaftsurlaubs nicht dabei.
Etwas wehmütig schaut Justine Hauer durchaus auf die vielen Jahre zurück, in denen sie mit einer Menge prominenter Kollegen und Regisseure zusammenarbeitete. „Das ganze Team war wie eine große Familie. Wir haben uns immer auf die Drehtage zwei Mal im Jahr gefreut. Außerdem wirkten mehrfach prominente Schauspieler mit, und ich lernte auch so großartige Regisseure wie etwa Michael Verhoeven kennen. Beim Drehen muss man immer hellwach und schnell sein und selbst den Überblick behalten. Denn es wird ja fast ohne Proben und nicht chronologisch gearbeitet. Anders als im Theater hat man als Schauspieler wenig Einfluss auf das Endergebnis. Ganz merkwürdig: Bei einer solch langlebigen TV-Serie kann man sich selbst beim Älterwerden zuschauen. Natürlich war es auch schön zu wissen, dass man regelmäßig Geld verdient. Die Verträge wurden zwar stets nur für eine Folge abgeschlossen. Aber das mag ich, denn sonst wird es mir zu verbindlich.“ Wie sie zu der Tatortserie kam? „Ich hatte mit Freunden von der Filmakademie Ludwigsburg ein paar Kurzfilme gedreht und kleine Rollen in TV-Movies gespielt. Der Anruf vom SWR kam völlig überraschend. Die wussten gar nicht, dass ich Oberschwäbisch reden kann. Im Fernsehen ist das natürlich ein Kunst­dialekt, denn man soll mich ja auch in Hamburg verstehen. Leider glauben jetzt manche, dass ich kein Hochdeutsch könnte.“ Hauers unverwechselbarer tiefer Stimme begegnet man übrigens recht häufig in Radio-Features und -Hörspielen. Eine Arbeit, die ihr sehr viel Spaß macht.
Der Bodensee-Tatort war indes auch eine Rückkehr in ihre Heimat. Denn Justine Hauer kam 1971 in Meersburg zur Welt und machte am Internat Schloss Salem ihr Abitur. „Dort entdeckte ich meine Liebe zur Bühne und wirkte in vielen Schultheater-Produktionen mit. Meine letzte Rolle vor dem Abschluss war die Spelunken-Jenny in Brechts Dreigroschenoper. Aber schon als kleines Kind habe ich gern inszeniert und träumte kurz davon, Dirigentin zu werden. Alternativ stand Schäferin auf meiner Wunschliste. An der Schauspielschule der Theaterwerkstatt Mainz bewarb ich mich eher aus Verlegenheit, ohne damit eine besondere Priorität zu verbinden.“ Sie wurde auf Anhieb angenommen und schloss 1994 ihre professionelle Ausbildung ab. Seitdem arbeitet sie als freie Theater- und Filmschauspielerin. 1996 debütierte sie am Theaterhaus Köln in Die Vagina-Monologe von Eve Ensler und spielte dort dann mehrere Jahre lang in Mark Ravenhills legendärem Schocker Shoppen und Ficken.
2002 sprang sie für eine erkrankte Kollegin ein beim Bonner Fringe-Ensemble in der Produktion Zur schönen Aussicht nach dem bekannten Drama von Ödön von Horváth. „Viel Text hatte ich nicht, sondern saß die meiste Zeit stumm auf einem Sofa des verkommenen Hotels, das Schauplatz dieser bitterbösen Komödie ist. Es war mein erstes Stück mit der Truppe und ist bis heute meine Lieblingsinszenierung.“ Bei der Neuauflage 2007 gehörte sie längst zum Fringe-Ensemble und spielte die Rolle der Christine sehr viel größer. Eine selbstbewusste Frau, die in die Gesellschaft der vereinsamten Hotelbewohner einbricht und mit ihrer soliden Erbschaft kaufen will, was das Leben ihr nicht schenkte. Die neue Version wurde 2008 zum NRW-Festival „favoriten“ eingeladen.
Seit knapp 15 Jahren wirkt Justine Hauer mittlerweile im Ensemble um den Regisseur Frank Heuel mit und schätzt die Fringe-Arbeitsweise sehr. „Viel Spaß gemacht haben aber auch die Kooperationen mit dem Theater Bonn – wie z.B. Generation P in der Werkstatt. Ich habe dort viele wunderbare Kollegen kennengelernt. Feste Hierarchien wie an einigen Stadttheatern liegen mir nicht besonders. Lieber ist mir ein Kreis, in dem man sich gemeinsam um ein Zentrum bewegt und Möglichkeiten erforscht.“
Reisen gehört nicht zu den Lieblingsbeschäftigungen der überzeugten Vegetarierin und Smartphone-Verweigerin, die lieber kurze Röcke als lange Hosen trägt. „Die Proben zu Fiction impossible 2005 in Lettland waren jedoch spannend. Über einen Monat lang waren wir in Riga, und es war so kalt, dass mir die Augen tränten, sobald ich aus dem Haus ging. Tschechows Kirschgarten haben wir ein Jahr später ebenfalls in Lettland erarbeitet. Sehr interessant war 2008 auch Geschichten getürkt, eine Koproduktion mit dem Theater Bonn im Zusammenhang mit der Biennale.“
Bei Brechts Die heilige Johanna der Schlachthöfe war Justine Hauer schwanger, spielte aber bis sechs Wochen vor der Niederkunft. „Ausstatterin Annika Ley hatte mir ein Unterkleid verpasst, das mir am Anfang bis zu den Knien reichte und am Ende kaum noch über meinen dicken Bauch passte.“ Inzwischen ist ihr Sohn sechs Jahre alt und gern mit ihr unterwegs in ihrer Wahlheimat Köln. Genauer im Eigelsteinviertel, das sie besonders schätzt. „Es ist wunderbar international und diversiv, man kann in einer Straße die ganze Stadthistorie erleben. Außerdem mag ich es nicht, wenn alle so sind wie ich. Im Übrigen wohne ich immer gern in der Nähe von Bahnhöfen.“ Was auch deshalb sehr praktisch ist, weil sie ­meis­tens in Bonn auftritt. „Der Ballsaal in Endenich ist toller Theaterraum. Variabel und mit einer ganz speziellen Atmosphäre.“ Aktuell ist sie dort in Christa Wolfs Kassandra zu erleben (s. Kritik auf kultur-S. 7). „Wir hatten nur drei Wochen Probenzeit und arbeiteten bis zum letzten Moment an dem rhythmisch komplizierten Text.“
Wie bei vielen Fringe-Produktionen kommt dabei auch wieder Hauers musikalisches Talent zum Zuge. Klavier hat sie als Kind gelernt und spielt auf der Bühne oft Keyboard und Orgel. In Köln hat sie eine eigene Band: „Rocket d’Amour“, wo sie als Sängerin und Instrumentalistin agiert. Die E-Gitarre spielt ihr Kollege Andreas Meidinger, der ebenfalls seit langem zum Fringe-Ensemble gehört. Ein neues Programm ist gerade in Arbeit. Kurz nach unserem Gespräch muss die vielseitige, eigenwillige Künstlerin sich jedoch schnell wieder in Kassandra verwandeln.

Donnerstag, 31.08.2017

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