Kassandra (Fringe-Ensemble) - Theater im Ballsaal - kultur 136 - Mai 2017

Kassandra
Foto: Annika Ley
Kassandra
Foto: Annika Ley

Ohnmacht und Widerstand



In ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen 1982 beschrieb Christa Wolf die Voraussetzungen ihrer Erzählung. Sie war die erste DDR-Schriftstellerin, die an der Goethe-Universität Frankfurt am Main auftrat. Sie berichtete, wie auf einer Griechenlandreise die Figur der Seherin Kassandra immer stärker ihr Interesse gefangen nahm und sich verband mit der unmittelbar erlebten Gegenwart. Im Theater im Ballsaal hat Fringe-Chef Frank Heuel sehr klar und fast schon puristisch nur Wolfs Sprachkunstwerk inszeniert. Keine mutwilligen Aktualisierungen, keine Ablenkungen vom Geschehen, dessen Voraussetzungen hier jedoch durch drei fabelhafte Schauspielerinnen neu untersucht werden.
Troja ist gefallen. Kassandra wusste, dass der Krieg nicht zu gewinnen war. Ihre Warnungen waren vergeblich, denn Apoll hatte ihr die Sehergabe verliehen, sie aber wegen ihrer sexuellen Verweigerung damit bestraft, dass niemand ihr glauben werde. Agamemnon hat Kassandra, Tochter des toten Troerkönigs Priamos, als Kriegsbeute nach Griechenland verschleppt. Sie weiß, dass sie den offiziellen Sieger zum letzten Mal lebend gesehen hat, als er seinen Palast betrat. Sie weiß auch, dass dessen Gattin und Mörderin Klytaimnestra sie in wenigen Stunden umbringen wird. „Mit der Erzählung geh ich in den Tod“, sagt sie zu Beginn von Christa Wolfs Erzählung Kassandra. Die Frau macht am äußersten Rand ihres Lebens selbstbewusst eine letzte „Schmerzprobe“ und sticht in einem inneren Monolog ihr empfindliches Gedächtnis an.
Christa Wolf (1929 – 2011) befragt in ihrer 1983 gleichzeitig in der DDR und der Bundesrepublik erschienenen Erzählung die großen antiken Heldenepen aus weiblicher Sicht. Am Anfang dröhnt Theaterdonner von drei riesigen rostigen Stahlplatten (Ausstattung: Annika Ley), die am Ende auf der leeren Bühne leise hin- und herschwingen. Das Grauen ist vorbei, alle Hoffnung zerstört, kein friedlicher Ort nirgends.
Zuvor haben jedoch die drei Frauen in heutigen hellen Kostümen die antike Geschichte rekapituliert. Jede zeigt eine Facette der legendären Kassandra-Figur. Drei Stühle genügen für ihre bitter-ironische Talkshow. Gemeinsam deklinieren sie die verweigerten Existenz-Möglichkeiten durch und vergegenwärtigen virtuos die sprachlichen und rhythmischen Komplikationen der kunstvoll verwickelten Dialektik einer fein gewebten Textur. Justine Hauer liefert am Keyboard die Schiffs-Sirenen, gönnt ihren Mitspielerinnen gern mehr als nur eine Zigarette und verkörpert mit dunkler Stimme den erotischen Aspekt der trojanischen Prinzessin. Nicole Kersten bläst Rauchkringel in die Luft und gibt in silbern glänzender Hose die tapfere Kämpferin. Bettina Marugg lässt ihre Stimme spitz leuchten und ihren Leib erzittern, wenn sie die Wahrheit nicht mehr verschweigen kann.
Unter die Haut gehen die Schilderung der brutalen Ermordung von Kassandras Lieblingsbruder Troilus durch Achill („das Vieh“) und der politische Verkauf ihrer Schwester Polyxena an den Feind zwecks dessen Ausschaltung. Genützt haben alle Staatsintrigen nichts. Der windige Eumelos, Chef der Palastwache, hat heimlich schon seine Spitzel aufgestellt, um in Troja ein totalitäres Regime zu installieren. Kassandra wird von der Männerwelt als geisteskrank in die Kerkerfinsternis verbannt. Vor ihrem Ende am Löwentor von Mykene gab es noch zwei glückliche Jahre mit ihren per Zwangsheirat gezeugten Zwillingen in einer bitterarmen Frauenkommune weit weg vom Kriegsgetümmel. Wirklich geliebt hat sie nur Aineias, der sie respektierte und rechtzeitig aus Trojas Trümmern nach Westen floh. Mit Kassandras Zustimmung, denn einen Helden konnte sie nicht lieben.
Die Aufführung bietet viel Stoff zum Nach- und Vorausdenken und erhielt bei der ausverkauften Premiere entsprechenden Beifall. E.E.-K.

Spieldauer ca. 80 außerordentlich intensive Minuten,
keine Pause
nächste Aufführungen 3.05. ? 4.05. ? 30.06. ? 1.07.17
sowie Ausschnitte bei der Bonner Theaternacht am 24.05.

Donnerstag, 31.08.2017

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