Die Leiden des jungen Werther - kultur 82 - Januar 2012

Die Leiden des jungen Werther nach Johann Wolfgang von Goethe in der Werkstatt: Salon-Feuerkopf

Der Tisch ist festlich gedeckt zum Geburtstag des merkwürdigen Hausfreundes. Zu sagen hat sich das Paar Lotte und Albert offenbar nicht viel in seinem bürgerlichen Salongefängnis, wo zwei Pistolen dekorativ ihre Porträts einrahmen. Später wird man artig Konversation machen mit den emphatischen Welt- und Herzschmerzsätzen, mit denen Goethes fiktives Werther-Ich 1774 in langen Briefen seiner empfindsamen Seele Luft verschaffte. „Ich will, lieber Freund, ich verspreche dir’s, ich will mich bessern, will nicht mehr ein bisschen Übel, das uns das Schicksal vorlegt, wiederkäuen…“, erklärt der Gast höflich bei Torte und Kaffee. Wobei er sich immer so haarscharf daneben benimmt, dass die Gastgeber freundlich nachsichtig sein müssen mit dem genialischen Sorgenkind.
Mit wehendem Mantel ist Werther zuvor hereingestürmt, hat sich eine der Pistolen von der Wand geschnappt und gegen seine Schläfe gehalten. Demonstrativ ganz vorn an der Rampe, mit einem Gesicht, das vor lauter innerem Drang fast zu explodieren schien. Der exzentrische junge Mann wird das noch öfter tun in Die Leiden des jungen Werther, nach Johann Wolfgang von Goethes berühmtem Roman in der Werkstatt inszeniert von Franziska Marie Gramss.
Aber erst mal schlüpft Werther brav in die bereitstehenden Filzpantoffeln. Schließlich soll kein Stäubchen die blässliche Blümchentapeten-Idylle stören, in der Albert und Lotte sich eingerichtet haben. Ausstatterin Judith Philipp hat dafür ein Wohnzimmer im 1950er-Jahre-Biedermeier-Look auf die breite Bühne gebaut, ein inzwischen sattbekanntes Signal für zeitlose Spießigkeit. Cremeweiß das Mobiliar inklusive Klavier, an dem Gregor Schwellenbach die Gemütswallungen elegant begleitet.
Zu einem echten Hausmusik-Melodram gerät Werthers Rezitation der düsteren Ossian-Heldengesänge und treibt der tief gerührten Lotte echte Tränen in die Augen, bevor sie ohnmächtig die Kaffeetasse fallen lässt und zusammenbricht auf dem klinisch sauberen Teppichboden.
Anastasia Gubareva mit blonder Lockenperücke und wechselnden Seidenblusen zum engen Rock spielt tapfer das naive Seelchen, das seinem Albert wütend einen „Klopstock“ an den Kopf wirft und Selbstmord irgendwie „sexy“ findet. Konstantin Lindhorst ist der Außenseiter Werther, dessen antigesellschaftliche Naturschwärmerei mit der Sehnsucht nach bürgerlicher Sofagemütlichkeit inklusive Familienanschluss kollidiert. Ein ständig übererregter, hilflos egomanischer Gefühlsnarr mit viel zu großen Pathosgesten und Tendenz zur geistreich hoffnungslosen Schau-Tristesse. Lindhorst präsentiert die Widersprüche seiner Figur brillant.
Souveräne Weltläufigkeit demonstriert Wolfgang Rüter als Albert, der gelegentlich französische Sprachbrocken einwirft und den Fremdkörper Werther patriarchalisch lässig toleriert. Dessen sentimentale Liebesgeschichte mit Lotte ist eher ein Nebenaspekt in der auf wenige Passagen des Goethe-Textes reduzierten Bühnenfassung der Regisseurin. Das Schauspielertrio präsentiert kunstvoll ein unlustiges Lustspiel in der Original-Kunstsprache des Sturm-und-Drang, was zu komischen Effekten führt. Während sie sich mühsam auf die Stühle quetschen oder exaltiert aufspringen, zelebrieren sie spielerisch und sprachlich virtuos sinnentleerte Sentenzen und eine ins Groteske verschobene Weltverlorenheit. Sie sind reine Kunstfiguren wie bereits in Gramss’ spannender „Nathan“-Interpretation, die als Wiederaufnahme in der Werkstatt nun parallel zum neuen „Werther“ läuft.
Dessen verbissene Leiden bleiben eine ehrgeizige Kunstanstrengung an der abgrundtiefen Oberfläche. Bis zum erlösenden Kopfschuss vergeht viel dramatischer Leerlauf – hübsch ungemütlich, manchmal sogar kurzweilig, aber von geringem Erkenntniswert. E.E.-K.

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Spieldauer ca. 80 Minuten, keine Pause.

Dienstag, 21.02.2012

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