König Lear - Schauspielhaus - kultur 165 - April 2020

König Lear
Foto: Thilo Beu
König Lear
Foto: Thilo Beu

von William Shakespeare; Der alte Herrscher und der Zerfall der Welt

Der König ist des Regierens müde, will die Macht abgeben und sein Reich an seine Töchter verteilen. Aber König will er bleiben. „Er hat geglaubt, ein König könne nicht aufhören, König zu sein, so wie die Sonne nicht aufhören kann zu leuchten. Er glaubte an die reine Majestät, an die reine Idee des Königs.“ Der polnische Autor Jan Kott schrieb das in seinem berühmten, 1964 auf Deutsch erschienenen Buch Shakespeare heute, in dem er auch gedankliche Parallelen zieht zum absurden Theater. Insbesondere zu Becketts Warten auf Godot, das Luise Voigt in der vergangenen Spielzeit sehr erfolgreich in der Werkstatt inszenierte. Man müsse König Lear von der „ganzen romantischen und naturalistischen Staffage befreien, aufhören, ihn als Oper oder als ein Melodrama über einen von seinen Töchtern vertriebenen Greis zu sehen, der barhaupt in Sturm und Wind über die Bühne rast und der infolge von Schicksalsschlägen buchstäblich die Sinne verliert.“
Luise Voigt (Regie und Bühne) hält sich konsequent an diese Empfehlung. Shakespeares düsterstes Drama erscheint hier sehr hell wie eine klinische Versuchsanordnung mit wenigen Überlebenden. Weiß und silbergrau schimmern die Kostüme (Maria Strauch). Weiß geschminkt sind der König und sein Hofstaat, die Damen tragen bizarr aufgetürmte Frisuren. Es ist eine extrem künstliche Welt, die da im Wahnsinn zugrunde geht. Eine riesige aufblasbare Puppe (Modellkonzept: Rüdiger Stern), deren Haartracht an Buddha-Figuren erinnert, dominiert die Bühne und illustriert das historische philosophische Konstrukt vom unsterblichen politischen Körper des Königs. Dagegen steht der individuelle menschliche Königskörper mit all seinen Gebrechen. In manchen Szenen sackt das symbolische Herrscher-Ich zusammen wie eine leere Hülle.
Anfangs wird Lear von seinen Bediensteten angekleidet für seinen zeremoniellen letzten Auftritt als Regent. Äußerlich nun ein Ebenbild der unnahbaren Puppe, innerlich bereits unterwegs zur Trennung von seinem offiziellen Dasein, was sich als fataler Irrweg erweisen wird. Liebesbekundungen erwartet er von seinen drei Töchtern im Austausch für die reiche Erbschaft. Die älteren, Goneril und Regan, überbieten sich unterwürfig mit ihren rhetorischen Floskeln. Die junge Cordelia reagiert mit einem schlichten „Nichts“, wird von ihrem Vater verstoßen und zieht ohne Mitgift als Gattin des Königs von Frankreich fort. Lena Geyer spielt die ehrlich liebende Tochter und vor allem den Hofnarren, der seinem mutwillig aus der sozialen und hierarchischen Weltordnung gefallenen Herrn eine Narrenkappe anbietet und ihn hellwach in die Umnachtung begleitet. Leider bleibt sein gewitzter Nihilismus manchmal auf der Strecke. Alle Darsteller sprechen mit Mikroports, was den artifiziellen Grundton der Aufführung unterstreicht, aber gelegentlich zu Lasten der sprachlichen Substanz geht. Zu den Stärken gehört indes die spannungsvolle elektronische Musik von Friederike Bernhard, die selbst am Bühnenrand das Geschehen begleitet.
Im Zentrum der Inszenierung steht fraglos der großartige Schauspieler Bernd Braun. Sein Lear ist buchstäblich ein Verrückter. Jemand, der sich in dem Zwischenraum von angestammter Macht, persönlicher Anmaßung und ohnmächtiger Wut verirrt hat. Jemand, der selbstgerecht einfordert, was er aus eigener Willkür aufgegeben hat. Mitunter wirkt er wie ein uraltes Kind, das schutzlos in ein fremdes Dasein gefallen ist. Lear ist der wirkliche Narr, der manches weiß und nichts begreift. Mitleid weckt er nicht, ebenso wenig wie die anderen Figuren des streng formalisierten Spiels. Zumeist bewegen sie sich, angeleitet von dem belgischen Schauspieler und Biomechanik-Spezialisten Tony de Maeyer, wie Marionetten oder von ihrer Körpersprache bestimmte Akteure ohne tiefere Psychologie. Oft erscheinen sie gleichzeitig gespenstisch überlebensgroß auf dem Videoscreen im Hintergrund. Per Video toben auch Sturm und Gewitter über die kahle Heide, auf der Lear gegen die entfesselte Natur ankämpft.
In seinem Elend geblieben sind ihm die „Guten“, die noch an die Würde des Königs glauben. Wie der von Roland Riebeling mit deutlicher Empathie verkörperte treue Kent, der trotz der barschen Verbannung seinem Herrn unverdrossen weiter dient. Wenn er in den Block gesperrt wird, scheint ihn hier die Königspuppe fast zu erdrücken. Tapfer zu Lear hält auch der alte Graf von Gloster, dessen Tragödie sich zunehmend mit dem Schicksal der Hauptfigur verbindet. Wolfgang Rüter spielt mit gradliniger Contenance den Vater zweier Söhne, verblendet längst bevor ihm brutal die Augen ausgerissen werden. Als intriganter Schurke entpuppt sich sein Sprössling Edmund (teuflisch blendend: Christoph Gummert), Glosters legitimer „guter“ Sohn Edward muss sich zum Schutz als Wahnsinniger ausgeben. Alois Reinhardt tänzelt mit ­grotesken Verrenkungen virtuos durch seine Maskerade als halbnackter armer Irrer und begleitet schließlich unerkannt seinen blinden Vater auf die Klippen, von denen dieser sich in den Tod stürzen will. Vergeblich, der verzweifelte Sprung bleibt ein gnadenloses Spiel mit dem Leben und ­Gloster ein Narr wie Lear.
Gnadenlos wie in alten Märchen rebellieren die „bösen“ Schwestern gegen die Ansprüche des alten Patriarchen. Die fabelhafte Sophie Basse gibt ihrer Goneril Anflüge von unberechenbarer Hysterie. Sandrine Zenner als kühl kalkulierende Regan hat ihren Gatten Cornwall (robust: Holger Kraft) fest im Griff, während der blasse Albany (Sören Wunderlich) angewidert die Seiten wechselt. Als windiger Haushofmeister Oswald fungiert das ehemalige Ensemble-Mitglied Manuel Zschunke; als Ritter, Boten etc. bewähren sich Florian Janik, Markus Müller und Leander ­Spaglia (Absolventen der Alanus-Hochschule).
Gestorben sind am Ende fast alle Protagonisten in diesem schaurigen Krieg um die Macht. Niemand ist mehr da, um Edgar als neuen König zu proklamieren. Emotionale Anteilnahme weckt die über dreistündige Vorstellung selten. Faszinierend ist jedoch ihre an fernöstliche Theaterformen erinnernde Ästhetik. Getragen wird der spannende Versuch über ein schwieriges Stück von Bernd Brauns eigenwilligem Lear. Insgesamt ein gedanklich widerständiges Highlight der aktuellen Schauspielsaison, das die Anstrengung unbedingt lohnt. E.E.-K

Spieldauer 3 ¼ Stunden inkl. einer Pause
Die weiteren Termine:
Da erst wenige Male gespielt ein heißer kandidat für eine Wiederaufnahme im Herbst, falls bis zum Sommer nicht mehr gespielt werden darf.

Donnerstag, 07.05.2020

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