Susanne Kessel - kultur 163 - Februar 2020

Susanne Kessel
Foto: Susanne Kessel
Susanne Kessel
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Elisabeth Einecke-Klövekorn trifft Susanne Kessel: „250 piano pieces for Beethoven“ und Konzerte ständig überall

Ihre blauen Augen leuchten: Zu Beethovens 250. Geburtstag sind tatsächlich nicht nur 250 neue Klavierstücke von Komponist*innen der Gegenwart aus 47 Ländern zusammengekommen, sondern 261. Als die Bonner Pianistin 2013 ganz ohne Geld ihr weltweit einzigartiges Projekt startete, war das ein Abenteuer mit offenem Ausgang. Aber Susanne Kessel strahlt eine solch unwiderstehliche Begeisterung und Energie aus, dass auch verrückte Ideen Wirklichkeit werden können. Sie ist Initiatorin, Kuratorin, Moderatorin, Produzentin und Veranstalterin des Projekts 250 piano pieces for Beethoven, an dem nur persönlich eingeladene Komponist*innen teilnehmen durften. Alle neu entstandenen Werke hat sie selbst in bislang über 100 Konzerten in Bonn uraufgeführt oder tut es demnächst noch. Fast immer reisen dazu (auf eigene Kosten) die Komponist*innen an, erläutern im Gespräch ihre jeweiligen Werke und deren Bezug zu Beethoven und zeigen, wie sein Geist ins 21. Jahrhundert und hoffentlich darüber hinaus fortwirkt.
Susanne Kessel entstammt einer alteingesessenen Bonner Familie, wurde 200 Jahre nach Beethoven hier geboren und wuchs in Bad Godesberg auf. Ihre Eltern meldeten sie schon früh bei der dortigen Musikschule an, so dass sie nicht lange auf einen Platz für die musikalische Früherziehung und später die Instrumental-Ausbildung warten musste und schon mit sechs Jahren richtig guten Klavierunterricht bekam: „Ich hatte keinen Stress mit dem Üben, sondern empfand das Klavierspielen als großes Vergnügen, lernte auch Cello und genoss jede Unterrichtsstunde bei meiner Klavierlehrerin Emilie Betz. Es war ein Glücksfall, dass damals gerade von der Stadt eine Begabtenförderung eingerichtet wurde mit Stipendien für den Unterricht an der Musikschule in Haupt- und Nebenfächern, nämlich die bis heute existierende „Studienvorbereitung“ für junge Nachwuchsmusiker. Schon mit zehn Jahren dachte ich intensiv daran, die Musik zu meinem Beruf zu machen.“ Ihre Großeltern hatten eine riesige Schallplattensammlung, mit ihren Eltern ging sie regelmäßig in Konzerte und in die Oper – „Im jetzigen Restaurant ‚Bühne‘ verbrachte ich einen Teil meiner Kindheit, um über das Erlebte zu reden“.
Susanne Kessel erhielt diverse Auszeichnungen und bekam mit vierzehn Jahren bereits Privatunterricht bei dem berühmten Pianisten und Hochschulprofessor Aloys Kontarsky (1931 – 2017). „Ich hatte immer Lehrer, die Klassik und Zeitgenössisches verbanden. Musik muss wie alle anderen Künste lebendig bleiben, unsere heutige Zeit reflektieren und einen Beitrag zur Mitgestaltung der Zukunft leisten. Das versuche ich auch meinen Klavierschülern zu vermitteln.“
Nach dem Abitur am Clara-Fey-Gymnasium studierte Kessel an der Kölner Musikhochschule bei der taiwanesischen Pianistin Pi-hsien Chen (*1950), die eine Koryphäe des zeitgenössischen und klassischen Konzertlebens ist und sich nicht auf eine Epoche oder Stilrichtung festgelegt hat. Kessel besuchte Meisterkurse u. a. bei Peter Feuchtwanger und Karl-Heinz Kämmerling, war 1993 Preisträgerin des Internationalen Schubert-Wettbewerbs, erhielt zahlreiche weitere Auszeichnungen und Stipendien, schrieb ihre Diplomarbeit über den „Bösendorfer Computerflügel“, gastierte bei zahlreichen Festivals und spielte etliche, von der Fachpresse hochgelobte CD-Aufnahmen ein. Konzertreisen führten sie durch ganz Europa und die USA. Ihr Markenzeichen sind Offenheit und Experimentierfreudigkeit. „Schon als Grundschülerin habe ich neben der klassischen Literatur auch Uraufführungen gespielt. Kinder interessieren sich nicht für Genregrenzen und erschließen sich Klänge am liebsten selbst. Ich liebte schon immer die Klavierwerke Schuberts und Beethovens, aber ebenso faszinierte mich besonders John Cage. Mich reizt bis heute die Vielfalt der musikalischen Möglichkeiten.“
Gelegentlich sind ihre Konzerte auch theatrale Performances, bei denen der Flügel als Bühne für Ton-Überraschungen fungiert. Bei der Uraufführung von „vervorstellung. imitat“ von Johannes Schropp trat sie mit Beethovens Totenmaske auf dem eigenwilligen Kopf auf. Bei „Beethoven durchquert die No. 2 in G-Dur“ montierte sie (nach Anleitung des Komponis­ten Georg Nussbaumer) selbst eine Beethovenbüste auf einen Bleisockel und ließ das Ganze auf den Tasten mitspielen. 2015 spielte sie im Kleinen Theater mit bei dem erfolgreichen, in Bonn angesiedelten Stück „Beethoven oder Die 33 Variationen“ von Moisés Kaufmann mit Cordula Trantow in der Hauptrolle. Musikalischer Berater des Autors war übrigens der Amerikaner William Kinderman, der selbstverständlich auch ein Stück für die „250 piano pieces“ beigesteuert hat.
Zu ihren besonderen Erfahrungen zählt Susanne Kessel ihre Mitwirkung 2003 bei dem Kinodrama „Blueprint“, in dem die erkrankte Starpianistin Iris sich klonen lässt, um ihre Kunst in ihrer Tochter Siri weiterleben zu lassen. Die wehrt sich jedoch gegen diese Zumutung. Filmstar Franka Potente spielte beide Rollen, am Klavier durchgehend gedoubelt von Kessel. „Es war unglaublich spannend, am Filmset komplett anders zu denken als im Konzertsaal, bei der Musikauswahl entscheidend mitzuwirken, alles selbst einzuspielen und vor der Kamera zu präsentieren.“ 2006 wurde sie von dem Regisseur Paul Verhoeven engagiert für die Klavier-Supervision von dessen vielfach ausgezeichneten Film „Black Book“.
Vorläufig ist für Theaterbühne und Leinwand jedoch keine Zeit mehr, denn Susanne Kessel ist schon seit langem unermüdlich in großen und kleinen Konzertsälen unterwegs, im Jubiläumsjahr 2020 mehrfach die Woche. Wobei sie die Konzerte eher als Erholung empfindet gegenüber den vielen Stunden am Computer und der aufwendigen Organisationsarbeit. Denn eigentlich ist ihr riesiges Projekt ein Ein-Frau-Unternehmen. Sie ist alleinige Projektleiterin, Veranstalterin, Mitherausgeberin der Notenedition und Produzentin der Aufnahmen und CDs. Das erste Doppelalbum, aufgenommen im Klaus-von-Bismarck-Saal des WDR mit 25 Stücken auf zwei CD’s hat sie bereits 2016 veröffentlicht. 200 weitere der piano pieces sind darüberhinaus mittlerweile als Downloads verfügbar. Die Aufnahmen hat sie selbst in ihrem eigenen Wohnzimmer realisiert. „Der Raum ist groß und hat eine hervorragende, professionelle Studio-Akustik. Bei der riesigen Anzahl aufzunehmender Stücke kann ich mich in diesem Projekt nicht nach freien Terminen eines Tonstudios richten, sondern muss flexibel arbeiten können. Also werden bei mir zu Hause ein exzellenter Steinway-D-Flügel aufgestellt, mit Hilfe eines Tonmeisters überall Mikros postiert und los geht’s. Die Aufnahmen werden anschließend vom Tonmeister geschnitten und gemastert. Zeitweise ist unsere Wohnung dann halt etwas ungemütlich.“
Die gemeinnützige Beethoven-Jubiläums-GmbH fördert einen großen Teil der Aufnahmen als Eigenprojekt unter der Dachmarke BTHVN. Ein Riesendank gebührt insbesondere dem Verein „Bürger für Beethoven“, der sich von Anfang an massiv für das Projekt engagierte und für jedes Stück Notenpatenschaften an private Bürger vermittelte. So konnten alle neuen Stücke vom Londoner Verlag „Editions Musica Ferrum“ editiert und in schön gestalteten, hochwertigen Notenbänden gedruckt werden. Der in Athen geborene Verleger Nikolas Sideris ist übrigens selbst Pianist und Komponist.
Die zehn Bände mit jeweils 25 Werken liegen nach etlichen Jahren voller Energie nun rechtzeitig vor als besonderes Geburtstagsgeschenk für Bonns größten Sohn. Alle Genres von Avantgarde, Jazz, Film, Pop und Musiktheater sind vertreten: Bekannte Namen und noch zu entdeckende Talente. Besonders glücklich ist Susanne Kessel über Band 8, der internationale junge Komponisten von 10 bis 19 Jahren präsentiert. An diesem Band hat der Bonner Komponist David Graham mit ihr zusammengearbeitet.
„Beethovens Größe muss man nicht mehr bekannt machen“, sagt Susanne Kessel. Ihr geht es um wirkliche Nachhaltigkeit seiner künstlerischen und gesellschaftlichen Ideen und deren Weiterwirken in die Zukunft. Die „250 piano pieces“ sollen deshalb nicht nur einmal erklingen, sondern auch in den nächsten Jahrhunderten möglichst oft gespielt werden, was inzwischen immer häufiger auf internationalen Konzertbühnen und auch in privaten Wohnzimmern passiert. Für die Veröffentlichung aller Aufnahmen auf CDs sucht Kessel übrigens dringend noch Sponsoren. Gegen eine geringe Gebühr kann man sich indes jetzt schon alle Stücke von ihrer Website www.250-piano-­pieces-for-beethoven.com herunterladen. Diese Seite ist sowieso eine riesige Schatzkiste, in der man Informationen zu allen Stücken und ihren Schöpfer*innen findet. Einige hier besonders zu nennen, wäre ungerecht oder bloßes Name-Dropping. Also lasse ich das hier ganz und genieße meinen Morgenkaffee umso lieber aus der Tasse, die auch in Kessels Internet-Shop erhältlich ist. Während sie auf dem Fahrrad fortsaust, um weitere Auftritte vorzubereiten, träume ich davon, dass 2070 viele Werke aus ihrer Sammlung ganz selbstverständlich zum Klavier-Repertoire gehören. Und wir alle freuen uns, dass es eine international perfekt vernetzte Pianistin gibt, die mit ihrer eleganten Mischung aus Idealismus, intelligenter Verrücktheit, unbestechlichem Kunstverstand und solider Bodenhaftung etwas geschafft und geschaffen hat, das dauerhaft bewegen soll.

Freitag, 24.04.2020

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