Rauschen - Theater im Ballsaal - kultur 161 - Dezember 2019

Im Netz der Bilder und Geräusche

Was hört, sieht, begreift man noch im Dauerrauschen der Informationsflut? Gibt es überhaupt noch Bedeutung im Rausch ständiger sinnlicher Überforderung? Hinter einem Vorhang aus semitransparenter Folie ­flüstern geheimnisvoll fremde Stimmen. Ein Geräusch mit versetzten Rhythmen und Sprachfetzen. Als „metaphysischen Tinnitus“ hat der Philosoph Rüdiger Safranski das Rauschen der Zeit bezeichnet. Um das akustische, visuelle und vor allem das verbal-semantische Rauschen und um die Illusion der Gleichzeitigkeit in unserer digital beschleunigten Welt geht es in dem neuen Stück Rauschen des Bonner fringe ensembles im Ballsaal. Worauf lenken wir unsere Aufmerksamkeit im scheinbar unbegrenzten Raum zwischen dem rasenden Strom von Informationen und dem Hirnrauschen in unseren Köpfen? Auf einem Video-Screen erscheinen banale Nachrichten: X hat ihr Studium abgebrochen, Y sich von seiner Partnerin getrennt, Z plant eine Reise etc … Hat das irgendetwas zu tun mit den Bühnenfiguren und ihrer multilingualen Präsenz? Die Barrieren zwischen privater, öffentlicher und künstlicher Identität verschwimmen zusehends wie der Wirklichkeitswert aller Nachrichten.
Regisseur Frank Heuel hat mit einem internationalen Ensemble eine spannende Performance erarbeitet, die ständig die eigene Wahrnehmung auf die Probe stellt. Die fünf Akteure sprechen Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Schweizerisch und auch mal bodenständiges Kölsch wie Nicole Kersten, die unter schallendem Gelächter von einem Seniorinnen-Ausflug an die Ahr erzählt. Manuel Klein parodiert blond und bissig den Brexit-Clown Johnson und glänzt mit Stimme und Gitarre als witziges Songtalent. Alejandra Jenni versucht sich verzweifelt als zierliches Song-Contest-Sternchen – monoton angestachelt vom „Open your eyes“ ihrer Managerin – und kämpft in einer Plastikblase atemlos um Bewegungsfreiheit. Kibsa Anthony Quedraogo aus Burkina Faso erzählt beklemmend von einem Höllentrip ins afrikanische Herz der Finsternis. Das übersetzt die vielseitige Schauspielerin und Sängerin Bettina Marugg im nüchternen News-Ton fast wörtlich. Ansonsten flimmert im Hintergrund ein Sprachgemisch aus Phrasen, Floskeln und verworrenen Wörtern, das sich bewusst nicht zusammenfügen lässt.
Den Soundtrack dazu gestaltet live der türkische Musiker Ömer ­Sangedik, inkl. Body-Percussion und raffinierten Tonverfremdungen. Ein atemberaubendes Kunstwerk ist wieder die Ausstattung von Annika Ley, die die komplexe Rauminstallation mit fabelhaft präzisen Projektionen belebt und sogar noch einer schmelzenden Eisscheibe ein Gesicht einschreibt.
Am Ende hängen viele solcher Scheiben aus gefrorenem Wasser vom Bühnenhimmel und beginnen langsam zu tropfen. „How can we dance, when our earth is burning“, wiederholt Bettina Marugg fast zehn Minuten lang warnend und macht aus dem beunruhigenden Medienrauschen einen ebenso fragil wie energisch rauschenden Kommentar zum Klimawandel. In Internet-Phobie und digitaler Euphorie Vernunftmomente zu fixieren, könnte nützen gegen plakative Dystopien und berauschende Kapital-Fiktionen. Eine bemerkenswerte, durchaus unterhaltsame theatrale Untersuchung des Flimmerfaktors von Wirklichkeit. E.E.-K.

Spieldauer ca. 80 Minuten, keine Pause
Weitere Termine waren bei Redaktionsschluss nicht bekannt.

Mittwoch, 08.01.2020

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