In Stanniolpapier (Uraufführung) - Werkstatt - kultur 160 - November 2019

In Stanniolpapier
Foto: Thilo Beu
In Stanniolpapier
Foto: Thilo Beu

Ein untadeliges Hurenleben

Maria klagt nicht und bereut nichts. Die Jahre auf der Straße seien ihre beste Zeit gewesen, erklärt sie. Maria ist Prostituierte. Tagsüber Büromaus, nachts Asphaltschwalbe oder Hostess. Bordell, Hotelzimmer oder auf die Schnelle im Auto. Maria bietet sexuelle Dienstleistungen gegen Bezahlung an. Und sie ist stolz, wenn sie in einer Nacht mit ehrlicher Arbeit ein paar Hunderter verdient. Ihre Geschichte ist so einfach wie viele in diesem Umfeld: Als Kind von den Eltern vernachlässigt (Vater Alkoholiker, Mutter lieblos), missbraucht von einem ‚Hausfreund‘, dann die ‚große Liebe‘ mit Beziehungen zum Rotlichtmilieu.
Der Sounddesigner und Autor Björn SC Deigner (*1983) hat sich inspirieren lassen von authentischen Gesprächen und daraus einen fast musikalisch strukturierten Text entwickelt. In Stanniolpapier war das Gewinnerstück der Autorentage 2018 am Deutschen Theater Berlin und kam dort in einer extrem verkürzten Fassung des Regisseurs Sebastian Hartmann auf die Bühne. Autor, Verlag und Theater einigten sich, diese Inszenierung nicht als Uraufführung gelten zu lassen, so dass nun in der Werkstatt von Theater Bonn das offizielle Debüt stattfand. In der Regie von Matthias Köhler (*1985), der hier zum ersten Mal arbeitete und mit einem eleganten Kunstgriff dem Drama eines Lebens Tiefenschärfe verleiht.
Maria wird verkörpert von drei Schauspielern: Birte Schrein, Sandrine Zenner und Manuel Zschunke. Klar: Das Angebot auf dem Markt ist zu mehr als 90 Prozent weiblich, die Kunden sind zumeist männlich. Aber es geht in dem Stück nicht in erster Linie um Opfer sexueller Ausbeutung, nicht um die vielen jungen Frauen aus Osteuropa, die mit falschen Versprechungen zur Prostitution gezwungen werden und schon gar nicht um spießige Rotlicht-Romantik. Die drei Marias sind selbstbewusste Persönlichkeiten, die mit lakonischer Ironie und poetischer Melancholie von ihren Sehnsüchten reden und den Fantasien der Fremden, die ihre Körper benutzen. Es gibt dabei Gewalt und verzweifelte Zärtlichkeit.
Auf einer spiegelnden, gelegentlich von unten farbig beleuchteten Drehscheibe (Bühne und Kostüme: Ran Chai Bar-Zvi) präsentieren sie sich in kurzen weißen Pelzjacken und transparenten Stöckelschuhen, zeigen viel Bein und erotische Verlockungsstrategien. In sexy Outfits mit Lack und Leder zu hautfarbenen Bodysuits räkeln sie sich auf dem Porno-­Dancetable. Scheinbar ungerührt und selbst bei intimen Verrichtungen unberührbar wie verpackt in glänzendes Stanniolpapier.
Diese Folie wird auch bei der Rettung von Unterkühlungs- oder Brandopfern gebraucht. Maria hat da einschlägige Erfahrungen, kapituliert jedoch nicht vor den Gefahren ihres Berufs. Ein bisschen ‚heilige Hure‘ mit rot schillerndem Kitsch-Kreuz, aber mutig bei der Verteidigung ihrer/seiner Identität. Gleichzeitig schutzlos und stark im Gefecht um das Sex-Kapital.
Auf der Tribüne um die Arena der Eitel- und Grausamkeiten mischen sich sechs singfreudige Best-Ager-Herren ein. Ulrich Art, Jörg Bohnsack, Bernhard Hieronymi, Helge Ippendorf, Heinrich Siemens und Wilhelm Wolber wirken wie ein antiker Chor (Musik: Philipp Pleßmann und Doro Bohr) in der Tragikomödie der Geilheit.

Großer Applaus für das gesamte Team!
Für Jugendliche unter 16 Jahren ist die Vorstellung nicht geeignet, auch wenn sie bei der Schilderung des Strichalltags eher diskret bleibt. E.E.-K.


Spieldauer ca. 80 Minuten, keine Pause

Mittwoch, 01.01.2020

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