Théorie des Prodiges - Tanzgastspiel Compagnie Système Castafiore in der Oper - kultur 160 - November 2019

Faszinierendes Gesamtkunstwerk

Die Welt ist voller Wunder. Die Compagnie Système Castafiore, beheimatet in dem südfranzösischen Städtchen Grasse, ist eins davon. Am ­14. September gastierte die 1989 von der Choreografin Marcia Barcellos und dem Musiker und Regisseur Karl Biscuit gegründete Truppe zum ­ersten Mal in der Reihe „Highlights des internationalen Tanzes“ im Bonner Opernhaus. Ihr mittlerweile weltweit gefeiertes Stück Théorie des Prodiges (Theorie der Wunder) ist eine sinnlich-philosophische Reise in zwölf Etappen, vom Ursprung des Lebens bis in die Weiten des Kosmos. Es ist eine multimediale theatrale Recherche zwischen Virtualität und Realität.
Getanzt wird auch, aber zwischen Videoprojektionen und 3D-Animationen wird der Blick zunehmend irritiert. Welche Figur bewegt sich wirklich live, welche ist ein künstliches, technisch erzeugtes Konstrukt? Manchmal scheint jemand aus dem fünfköpfigen Tanz-Ensemble zu fliegen. Seltsam amorphe Gebilde schweben durch den Raum, geheimnisvolle Fabelwesen wie das legendäre Einhorn erscheinen. Imaginäre Räume entstehen wie von Geisterhand, die euklidische Geometrie scheint aufgehoben. Das Auge selbst beginnt zu tanzen, sinnbildlich verkörpert von einer Gestalt mit einer Augapfel-Maske.
Live ist der Gesang, Camille Joutard im leuchtend roten Gewand evoziert am Bühnenrand mittelalterliche und barocke Klänge. Virtuell ist die Conférencière im weißen Hosenanzug (die Schauspielerin Florence Ricaud), die elegant die Szenen erläutert. Immer mit einem leicht ironischen Unterton: Wir können alles erklären, verstehen aber nichts. Wo liegt die Grenze zwischen dem Unwahrscheinlichen und dem Unmöglichen, zwischen Wissenschaft und Mythos? Wie kam das Leben auf die Erde? Waren es Kometenkollisionen oder gefallene Engel, die auf einem im Vergleich zum Weltall nur staubkorngroßen Planeten das erschufen, was wir mittels Sprache zu erfassen versuchen?
Sehr witzig ist der Ausflug ins Grand Hotel Paradox des deutschen Mathematikers David Hilbert, illustriert durch Computergrafiken, die die Lösung des Problems der Unendlichkeit in einem bizarren Liniengewirr verschwinden lassen. Und wenn es außerirdische Intelligenzen gibt, warum sind wir ihnen noch nicht begegnet? Gibt es überhaupt Bedeutung, oder bloß Dinge und Strukturen, denen wir notgedrungen einen Sinn unterstellen? Die Welt ist also voller Geheimnisse, aber Denken macht Spaß. Besonders wenn man es so poetisch zum Tanzen bringt wie die französischen Gäste. Mit ein bisschen Mystik (die Weltmodelle der Religionen helfen nur begrenzt, die Antwort sind wir selbst), faszinierendem Ton- und Bilderzauber und der nicht ganz neuen Einsicht, „dass heutzutage die Dummköpfe selbstgewiss sind und die intelligenten und phantasiebegabten Menschen voller Zweifel und Zaghaftigkeit“.
Nach pausenlosen 70 Minuten vehementer Applaus für ein anregendes Gesamtkunstwerk. E.E.-K.

Mittwoch, 01.01.2020

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