Szenen aus Faust I zum Abschied von Walter Ullrich im Kleinen Theater - kultur 158 - Juli 2019

Abschied und Willkommen

Familie, Freunde und Kollegen der anderen Bonner Theater waren gekommen, um die letzten Vorstellungen im Kleinen Theater zu erleben. Die letzten unter der Intendanz von Walter Ullrich, der bei der Abschlussparty am 16. Juni selbstironisch ein weißes T-Shirt mit einem Bild des 1922/23 errichteten Gebäudes trug mit der Aufschrift „Ich war mal Chef dieses Hauses“. Und immer wieder gern erzählt, wie listig er sich vor einem halben Jahrhundert das mittlerweile denkmalgeschützte ehemalige Bad Godesberger Bürgermeisteramt am Kurpark für seine Bühne eroberte. Schon früh hatte eine Zigeunerin dem Sohn einer Theaterfamilie geweissagt, dass er wohl nie Schauspieler würde, sondern sein Leben lang vor allem mit Papieren beschäftigt sein werde. Letzteres traf durchaus ein, aber im Gedächtnis bleibt er als Regisseur und Darsteller.

„Was ich besitze, seh ich wie im Weiten, / Und was verschwand, wird mir zu Wirklichkeiten.“ Die Schlussverse der „Zueignung“ hörte man bei der Premiere im Kleinen Theater mit gemischten Gefühlen. Überhöhtes Pathos war nie die Sache dieses versierten Theatermachers und unermüdlichen Theaterträumers Ullrich. Eher Wirklichkeiten – ausdrücklich im Plural und gern sehr nah am Publikum. Wenn der Prinzipal sich mit 88 Jahren von seinem vor über 60 Jahren in Bad Godesberg gegründeten Kleinen Theater verabschiedet, muss es zweifellos schon mit dem bedeutendsten Drama der deutschen Literatur sein. Also Goethes Faust. Der Tragödie erster Teil – ein Werk, das immer wieder auf seinem Spielplan stand. Diesmal in einer auf wenige Schlüsselszenen reduzierten Version, die noch einmal die Sprachkunst ins Zentrum stellte. Um den ­Respekt vor großen Texten und ihrem Sinn ging es dem beliebten ­Bühnenkünstler stets.
Die bekannten Verse wurden folglich auch bei seiner Abschiedsvorstellung nicht als zitierfähiges Bildungsgut deklamiert, sondern mit Intellekt und Emotionen aufgeladen. Gedankenverloren weckte Stefan Krause anfangs am Bühnenrand in den Stanzen der „Zueignung“ die „schwankenden Gestalten“ eines langen Bühnenlebens. Ungemein berührend verkörperte Eva Wiedemann das ruhelose Gretchen (am Brunnen schnippisch in die Enge getrieben von Regieassistentin Regina Tempel als Lieschen), das an verführerischen Küssen zerschmolz und im Dom die schmerzensreiche Jungfrau vergeblich um Hilfe anfleht. Die junge Schauspielerin debütierte in der Rolle am Kleinen Theater, spielte dort etliche Hauptfiguren und schließt damit einen Kreis.
Der Schauspieler Karl Heinz Dickmann gehört zu den langjährigen Weggefährten des Kleinen Theaters und spielte nun den braven Schüler Wagner, der vieles weiß, jedoch nicht alles. Absolute Glanznummern lieferte der 81-jährige Folker Bohnet als unverschämt beweglicher Mephisto, der im schwarzroten Mantel (Kostüme: Sylvia Rüger) teuflisch raffiniert zwischen Himmel und Hölle laviert. Dem Herrn aller Geschöpfe lieh Claus Wilcke seine sonore Stimme. Von Zeit zu Zeit sieht man den Alten gern, auf Erden jedoch am liebsten als Forscher, Zweifler und Menschen mit zwei Seelen in der Brust auf der Spur von des Pudels Kern. Walter Ullrich spielte die fabelhafte Vieldeutigkeit des Doktor Faustus mit einer erfahrungsgesättigten Ehrlichkeit, ironischer Energie und abgeklärter Weisheit. Was die Welt im Inners­ten zusammenhält? Genau das war der bleibende Suchauftrag von Ullrichs pausenloser 60-minütiger Inszenierung. Einen Pakt mit Theaterblut, feurigen Bühneneffekten und allerhand Illusionen gab es selbstverständlich auch.
Aber vor allem einen sehr lebendiger Reigen von Figuren, die im Kleinen Theater vom Wahn zur Wirklichkeit wurden. Premieren-Ovationen (im Publikum am 13.6. auch die Bonner Sport- und Kulturdezernentin Schneider-Bönninger) für den hellwachen Hauptdarsteller und sein exzellentes Team. Denn das Ende ist ja gleich ein neuer Anfang. Viele Funken einer legendären Ära leuchten demnächst weiter. Und Walter Ullrich ist der Typ, der nicht unter melancholischen Tränen sein Haus verlässt, sondern mit einem robusten Lächeln. Und garantiert noch oft seine Bühnenpräsenz beweisen wird. Schon im kommenden Herbst wird er in Neuwied den Großinquisitor in Schillers Don Karlos spielen.

Wegen der großen Kartennachfrage hat er seinen Abschied vom Kleinen Theater, an dem sein Herz hing, gleich verlängert und noch drei weitere „Faust“-Vorstellungen präsentiert. Im Schlosstheater Neuwied, wo er 40 Jahre lang die Landesbühne Rheinland-Pfalz leitete, hat man ihn mit einem großen offiziellen Abschiedsempfang geehrt. In Bonn blieb man eher unter sich. Sein Nachfolger Frank Oppermann hat aber schon verraten: Demnächst heißt die Theaterbar „Ullrich’s“. E.E.-K.

Donnerstag, 05.09.2019

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