Annika Schilling - kultur 156 - Mai 2019

Annika Schilling
Foto: Thilo Beu
Annika Schilling
Foto: Thilo Beu

Kunigunde, Célimène, Laura und die Linie 16 - Elisabeth Einecke-Klövekorn trifft Annika Schilling

Am Abend vor der Premiere von Oh wie schön ist Panama Malta saß sie noch neben Donna Leon und Sy Montgomery und las im Rahmen der Lit.Cologne Auszüge aus Montgomerys neuem Buch „Einfach Mensch sein“. Bei dem Festival in Köln ist sie seit mehreren Jahren ein gern gesehener Gast. „Literatur-Lesungen sind ohnehin schon eine große Leidenschaft von mir, aber die Autor*innen auch noch persönlich kennenzulernen, ist ein besonderes Erlebnis. Das Theater Bonn hat es mir ermöglicht, und das, obwohl die Nerven einen Tag vor der Premiere immer blank liegen und wir noch bis zur letzten Minute geprobt haben.“
Annika Schilling spielt in dem Recherche-Thriller die junge Journalistin Laura, die der weltweiten Korruption und Steuervermeidung nachgehen soll. „Das Projekt ist eine Stückentwicklung – gemeinsam im Team haben wir Berge von Material recherchiert, improvisiert, entdeckt, erfunden, uns verirrt, alles verworfen und von vorn angefangen. Mit Simon Solberg erlebe ich gern solche Abenteuer weil er ein Regisseur ist, dem die Welt nicht egal ist. Er will Denkstrukturen aufbrechen, aufrütteln und bewegen. Und das mit viel Herz, Phantasie und Lust am sozialen Ungehorsam.“
Schilling kennt den neuen Bonner Hausregisseur Solberg seit fast einem Jahrzehnt. Am Staatsschauspiel Dresden debütierte sie 2009 als Julia in seiner Inszenierung von Shakespeares Romeo und Julia. Dramaturg der Produktion war übrigens Jens Groß, seit dieser Spielzeit neuer Bonner Schauspieldirektor. „Die Rolle der Julia in der radikalen Inszenierung hat mich über vier Jahre in Dresden begleitet und mit über 50 Vorstellungen viele junge Leute wieder fürs Theater begeistern könnnen.“
Geboren wurde Annika Schilling 1984 in Freudenberg und wuchs in Siegen auf. Sie erhielt dort schon als Kind klassischen Ballettunterricht, ein richtiges Theater gab es in der Stadt jedoch nicht. Mit Schultheater und diversen Off-Gruppen macht sie ihre ersten Bühnenerfahrungen. Nach dem Abitur zog sie nach Berlin: „Hauptsächlich, weil die Auswahl an Theatern dort riesig ist und ich professionelles Theater zuvor nie gesehen hatte. Der Entschluss, das Spielen zu meinem Beruf zu machen, reifte erst zaghaft, dann aber doch sehr leidenschaftlich.“ Eigentlich plante sie bereits ein Psychologiestudium in Konstanz, aber als es nach ein paar Vorsprech-Anläufen klappte, begann sie 2005 ein Studium an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin.
„Ich hatte dort eine großartige Sprecherziehung, was ja ein Schwerpunkt innerhalb der Ausbildung ist. Hier hat meine Begeis­terung für den Umgang mit Texten angefangen.“ An zahlreichen Lesungen, Hörbüchern und Hörspielen hat sie inzwischen mitgewirkt. „Ich mag die Studio-Situation: Ich bin da hochkonzentriert. Es geht nur um den Text und meine Interpretation davon.“ Auch um die Nähe zum WDR nicht zu verlieren, entschied sich Schilling nach ihrem Engagement in Köln für Bonn. Inzwischen arbeitet sie auch als Schauspieldozentin an der Alanus-Hochschule Alfter und freut sich, den Studierenden Einsichten und praktische Erfahrungen zu vermitteln.
Sie selbst bekam gleich nach dem Studienabschluss 2009 ein festes Engagement am Staatsschauspiel Dresden und arbeitete dort mit vielen renommierten Regisseur*innen. Sie nennt besonders die Titelrolle in Das Käthchen von Heilbronn 2010 in der Regie von Julia Hölscher. „Die Welt, die Kleist mit seiner Sprache erschafft, ist atemberaubend. Gleich 2011 konnte ich mit dem Regisseur Armin Petras und der Novelle Das Erdbeben in Chili noch einmal tiefer in Kleists Kosmos eintauchen.“ Auch ein großer Publikumserfolg war Roger Vontobels Hamlet-Inszenierung (mit Christian Friedel in der Titelrolle und seiner Rockband „Woods of ­Birnam“), in der sie die Ophelia verkörperte. Die Produktion ist geradezu Kult, wurde eingeladen zu diversen Gastspielen und ist Ende 2018 nach Düsseldorf weitergezogen. „Natürlich nicht mehr in der Originalbesetzung von 2012. Mittlerweile gibt es schon die vierte Ophelia an Christian Friedels Seite.“ Die 100. Vorstellung in Dresden hat Annika Schilling allerdings noch selbst gespielt, obwohl sie da schon längst nach Köln gezogen war.
Stefan Bachmann, seit der Saison 2013/14 Intendant des Schauspiels Köln, holte sie in sein Ensemble, wo sie gleich wieder große Rollen verkörperte. Darunter 2014 die Luise Miller in Schillers Kabale und Liebe in der Regie von Simon Solberg, einer insbesondere vom jungen Publikum stürmisch gefeierten Produktion. Ihren Einstand in der Domstadt gab sie in verschiedenen Rollen in Brechts Der gute Mensch von Sezuan, inszeniert von Hausregisseur Moritz Sostmann, der regelmäßig mit den Mitteln des Figurentheaters arbeitet. „Es ist eine ganz eigene Erfahrung, wenn Puppen und lebendige Schauspieler miteinander agieren.“
Annika Schilling wählt ihren Lebensmittelpunkt gern dort, wo sie den Menschen direkt begegnen kann, für die sie Theater macht. Deshalb wohnte sie während ihres Kölner Engagements auch auf der ‚Schäl Sick‘, in der Nähe der Kölner Interimsspielstätte, und konnte mit dem Recherche-Projekt zum NSU-Nagelbombenanschlag Die Lücke (Regie: Nuran David Calis) mit Überlebenden der Keupstraße ein dunkles Kapitel der Kölner Stadtgeschichte aufarbeiten.
Mit der Entscheidung, dass Jens Groß Schauspieldirektor und Simon Solberg Hausregisseur des Bonner Theaters werden sollten, fiel es Annika Schilling leicht, nach Bonn zu wechseln. „Theater ist ein Ort der Begegnung. Wir wollen der Politik beweisen, wie wichtig dieses Theater für die Stadt ist, und dass uns alle Sparmaßnahmen nicht in die Knie zwingen.“ Seit Beginn dieser Spielzeit gehört Schilling zum Bonner Schauspiel-Ensemble und überzeugte gleich bei der Saisoneröffnung als Kunigunde in Voltaires Aufklärungs-Satire Candide (Regie: Simon Solberg). Darauf folgte Der Menschenfeind, eine Inszenierung von Jan Neumann, mit dem sie schon in Dresden und in Köln gearbeitet hat. Sie spielt darin das Party-Girl Célimène. „Sie ist die Gastgeberin des Abends. Mit dem Publikum zu flirten, es für mich zu begeistern, ist mein Spielauftrag. Enzensbergers Molière-Übertragung ist dabei echt tückisch. Die Sprache ist bewusst derb und wimmelt nur so von Kalauern. Aber die Setzung der Reime, die Wendigkeit und der Rhythmus sind schon eine Klasse für sich.“ Da ist dann wieder ihre Sprachbegeisterung, die den Esprit des Originals und den Witz der Bearbeitung zusammen denkt.
Ihre hervorragende Gesangsstimme kann sie momentan oft einsetzen, zum Beispiel bei dem Liederabend Linie 16. „Für Leute, die eigentlich sonst nicht ins Theater gehen, ist so ein Abend ein schöner Einstieg, um sich vielleicht auch andere Stücke anzuschauen und ihren Freunden Lust auf Theater zu machen.“ In Bonn fühlt sie sich ausgesprochen wohl, freut sich über die Zusammenarbeit mit den schon länger hier tätigen Kolleg*innen und auf neue Herausforderungen. Gerade haben die Proben zu House of Horror (Premiere am 24. Mai) begonnen, einem Projekt von Volker Lösch, mit dem sie jetzt zum ersten Mal arbeitet. Gemeinsam mit dem Regisseur und dem Ensemble überprüft sie die Frauenbilder der Literaturgeschichte auf ihre Aktualität und ob sexuelle oder strukturelle Gewalt gegenüber Frauen überwunden oder im Gegenteil gefördert und verherrlicht wird. „Ein komplexes Thema, denn Frauen pendeln ja ständig zwischen der Behauptung ihrer eigenen Stärke und dem Bild vom unschuldigen oder schuldigen Opfer von männlicher Gewalt.“ Annika Schilling ist viel zu klug und politisch nachdenklich, um einfache Lösungen zu akzeptieren. Direkt nach unserem anregenden Gespräch wird sie erneut im goldenen Bällebad Célimènes Lebenslust zelebrieren und alle ­Misanthropen so aufscheuchen, dass sie an die Macht des Theaters glauben müssen.

Montag, 26.08.2019

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