Autobiography - Gastspiel Company Wayne McGregor im Opernhaus - kultur 154 - März 2019

Getanzte Lebenserforschung

Der britische Choreograf Wayne McGregor ist ein Forscher, der Wissenschaft in Bewegung bringt. Dennoch vermittelte sich die sinnliche und emotionale Wirkung bei dem Gastspiel seiner Company Ende Januar in der Bonner Oper auch ohne besondere Vorkenntnisse. Jede Vorstellung seines 2017 uraufgeführten Stücks Autobiography ist einmalig. Niemals werden alle 23 ‚Bände‘ dieser Autobiografie geöffnet, nur Anfang und Ende sind festgelegt. Den Ablauf der anderen Szenen bestimmt ein Algorithmus, der auf McGregors eigenem genetischen Code basiert. Der vielfach ausgezeichnete britische Choreograf (*1970) arbeitet regelmäßig an berühmten Opernhäusern und für weltbekannte Tanz-Compagnien, aber auch für Filme und Popmusik-Videos und Live-Shows. Mit seiner eigenen Company residiert er am Sadler’s Wells in London und hat mit Natur- und Geisteswissenschaftlern ein Forschungslabor etabliert, das im Zeitalter von Virtual Reality und Künstlicher Intelligenz die Archive des menschlichen Körpers untersucht. Für Autobiography hat er sein genetisches Material analysieren und sequenzieren lassen. Es geht also um Selbstwahrnehmung, biologische Kreatürlichkeit und das Sich-Einschreiben in zeitliche Prozesse.
Wie erzählt sich ein Leben, das von 23 Chromosomenpaaren und einem DNA-Code vorgegeben scheint und doch geprägt wird von zahllosen mehr oder weniger flüchtigen Eindrücken, Erfahrungen, Erinnerungen? Nichts ist wiederholbar, es gibt keinen narrativen roten Faden, sondern nur eine diskontinuierliche Abfolge von möglichen Wirklichkeitsmomenten. Improvisiert ist in diesem multimedialen Gesamtkunstwerk freilich nichts. Es beginnt mit Avatar, einem faszinierend sinnlichen männlichen Solo zwischen Geschmeidigkeit und technoider Künstlichkeit. Alles ist schon da: Die in den Tänzerkörper eingeschriebene ­Reminiszenz an klassische Ballettfiguren, die postmoderne Dynamik, virtuose Gliederverrenkungen, Überdehnungen und Balanceakte, wirbelnde geometrische Wendungen und vor allem ein atemberaubendes Bewegungstempo.
Eingeblendet werden Szenen-Titel, wie z.B. 3: (des)equilibrium oder 13: not I, wo individuelle Figuren selbstbewusst mit ihrer Verschiedenheit spielen. Es gibt hochemotionale Duette, Trios und große Ensemble-Auftritte. 3 Scenes beispielsweise, wo sich in die harten Beats der amerikanischen Musikerin Jlin sanftes Wasserplätschern und Vogelgezwitscher mischen. Eine brüchige Idylle im nebligen Fluss des elektronischen Dauerrauschens aus Klangfragmenten und Bildvisionen, die die Vereinzelung und die Versuche von Gemeinsamkeit illustrieren. Bühnenbild und Projektionen (Ben Cullen Williams) und das Licht-Design (Lucy Carter) suggerieren mit farbigen Effekten verfremdete Lebensentwürfe, literarische Lektürespuren und philosophische Albträume. Gegen Ende fahren die spitzen, neonkalt beleuchteten Aluminium-Pyramiden vom Bühnenhimmel so bedrohlich nach unten, dass der Tanzboden kein sicherer Schutzraum mehr zu sein scheint.
Alles ist jedoch scheinbar in diesem tänzerischen Essay über die künstlerische Realität und Fiktionalität von eigenwillig oder fremdgesteuert tanzenden Geschöpfen. Den komplizierten theoretischen Hintergrund muss man gar nicht kennen, um die Aktionen des fabelhaften zehnköpfigen Ensembles spontan zu begreifen. Sie sind jenseits aller ermüdenden Gedankenkonstrukte immer physisch so hellwach, dass nach rund 80 pausenlos intensiven Minuten der überzeugte Beifall im fast ausverkauften Opernhaus kaum enden wollte. E.E.-K.

Donnerstag, 01.08.2019

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