Jens Groß - kultur 149 - Oktober 2018

Jens Groß
Foto: Thilo Beu
Jens Groß
Foto: Thilo Beu

Elisabeth Einecke-Klövekorn trifft Jens Groß - Neuer Schauspieldirektor am Theater Bonn

Mit dem Zollstock in der Hand hilft er noch dabei, die neuen großen Fotos der Ensemble-Mitglieder im Foyer aufzuhängen. Jens Groß packt gern selbst mit an, um das Theater einladender zu gestalten und stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Kürzlich wurde der alte Schriftzug „Kammerspiele“ (die vertrauten Lettern werden selbstverständlich nicht einfach entsorgt, sondern wandern in den Fundus) ersetzt durch „Schauspielhaus“. Ästhetisch ganz bewusst im Stil des traditionsreichen, teilweise denkmalgeschützten Gebäudes am Bad Godesberger Theaterplatz, in das sich der neue Schauspieldirektor nach eigenem Bekunden geradezu verliebt hat.
„Es ist ein Glücksfall, dass ich als leitender Dramaturg und stellvertretender Schauspieldirektor drei Jahre lang das Funktionieren des Hauses, das Publikum und das gesellschaftliche Umfeld intensiv beobachten konnte“, erklärt Jens Groß in seinem Stammcafé direkt gegenüber vom Haupteingang. „Das Wort ‚Kammerspiele‘ suggeriert kleinere Formate wie bei ‚Kammermusik‘. Nach dem Wegfall der Halle Beuel als Spielstätte des Theater Bonn gibt es jedoch ganz klar einen Hauptspielort des Schauspiels. Und zwar nicht irgendwo an der Peripherie, sondern sehr zentral in einer hochspannenden urbanen Umgebung.“
Der 1959 in München geborene Architektensohn Groß hat an zahlreichen deutschen Bühnen gearbeitet und viele Erfahrungen mit allen Theaterbetriebs-Strukturen gesammelt. Angefangen hat die Theaterleidenschaft schon während der Schulzeit. „Ich schrieb als Jugendlicher Stücke, die niemand aufführen wollte. Von Regie oder Dramaturgie hatte ich keinen blassen Schimmer. Unser Gymnasium in der idyllischen Kleinstadt Gauting zwischen München und dem Starnberger See bot jedoch einen total gut ausgestatteten Theaterraum, und das Schultheater wurde von der wohlhabenden bildungsbürgerlichen Elternschaft gern gefördert. Also geradezu ideale Ausprobiermöglichkeiten.“ Etwas Ordentliches lernen sollte er nach dem Abitur aber doch und fand sofort eine Lehrstelle als Buchhändler. „Das entsprach meiner bis heute ungebrochenen Vorliebe für das geschriebene Wort.“ Parallel besuchte er die in einer bezaubernden Jugendstilvilla residierende Gautinger Schauspielschule, ein mittlerweile nicht mehr existierendes Institut, aus dem zahlreiche bekannte Bühnen- und Filmgrößen hervorgingen.
„Mein erstes Jugendstück dort war ein Supererfolg und wurde zu diversen Festivals eingeladen. Ich gründete sofort eine freie Gruppe und setzte die nächste Inszenierung komplett in den Sand. Um Geld zu verdienen, machte ich dann in München alle möglichen Theaterjobs von Garderobe und Lichttechnik bis Inspizienz und assistierte an der Falckenberg-Schule.“ Sein erstes Festengagement als Schauspieler, Regie- und Dramaturgieassistent erhielt Groß 1982 am Wiener Schauspielhaus unter der ers­ten Intendanz von Hans Gratzer. Von 1985 bis 1988 war er Leitungsmitglied des freien „Beinhardt-Ensembles“ Wien (eigentlich „Reinhardt“, aber ein Druckfehler beim ersten Plakat gefiel allen).
Nach sechs Jahren intensiver professioneller Praxis in Österreich entschied er sich für einen wissenschaftlichen Zwischenstopp und studierte in Regensburg Germanistik und Philosophie. „Von Anfang an mit dem Schwerpunkt auf dem 18. Jahrhundert. Die bürgerliche Aufklärung in Frankreich und Deutschland ist Grundlage unseres heutigen Theaterverständnisses vom moralischen Impuls bis zur skeptischen Reflektion aller Behauptungen.“ Inzwischen hat er selbst als Lehrbeauftragter an mehreren Hochschulen gearbeitet und ist seit 2015 Professor und Studiengangsleiter für Dramaturgie an der Akademie für Darstellende Künste in Ludwigsburg.
Seine Theaterlaufbahn startete er 1992 neu als Dramaturg am Staatstheater Braunschweig. Also der Stadt, in der Lessing, der Erfinder der modernen Dramaturgie, seine letzte Ruhestätte fand. Von 1996 bis 1999 arbeitete Groß am Niedersächsischen Staatstheater Hannover und war dann bis 2001 Dramaturg am Bayerischen Staatsschauspiel, der größten Sprechbühne in seiner Heimatstadt München. Künstlerisch prägend und politisch spannungsvoll war die lange Zeit als Chefdramaturg und Stellvertreter der Intendantin Elisabeth Schweeger von 2001 bis 2009 am Schauspiel Frankfurt/Main.
Schon vor dem Mauerfall 1989 hielt Groß sich häufig in Westberlin auf, fuhr regelmäßig in den Osten und investierte das Geld aus dem Zwangsumtausch natürlich in Bücher. Es reizte ihn also sehr, in den neuen Bundesländern zu arbeiten. Von 2009 bis 2011 wirkte er als Dramaturg unter der neuen Intendanz von Wilfried Schulz am Staatschauspiel Dresden. „Im Osten gab es eine hervorragende schauspielerische Handwerklichkeit. Wir wollten das Theater für neue Diskurse öffnen und konnten gleich im ersten Jahr rund 800 Bürgerinnen und Bürger für die Mitwirkung gewinnen.“ 2011 ging Groß unter der Intendanz von Armin Petras als Leitender Dramaturg ans Berliner Maxim-Gorki-Theater, von 2013 bis 2015 war er Chefdramaturg und Stellvertreter des Intendanten Stefan Bachmann am Schauspiel Köln. „Mein Weggang hatte mit den kürzlich aufgekommenen unappetitlichen Debatten absolut nichts zu tun. Die Chemie stimmte einfach nicht. Für Bonn habe ich mich nach vielen Erfahrungen ganz bewusst entschieden.“
Mit seiner Frau, der seit der Saison 2015/16 in Bonn engagierten Dramaturgin Nadja Groß, und dem inzwischen elfjährigen Sohn wohnt er weiterhin im nahe gelegenen Köln. „Diese Stadt hat eine sehr gefestigte Identität. Bonn ist immer noch auf der Suche nach seiner Position. Trotz seiner geografisch-historischen Lage im Westen ein bisschen wie der Osten, der über Nacht einen Teil seiner Orientierung verlor. München und Stuttgart sind relativ saturierte Städte, in denen Theater eher als Event denn als gesellschaftliche Notwendigkeit gilt. Aber jeder Vergleich hinkt. Am aufregendsten ist stets der Ort, an dem ich arbeite.“
Was ist also das Besondere am eher kleinen Bonner Schauspiel? „Ein wirklich tolles Haus mit einer guten technischen Ausstattung, einem fabelhaften Team und einer idealen Platzkapazität. Natürlich kann man Einiges verbessern, wenn man mit dem dauernden Schlechtreden aufhört. Es gibt hier ein großes Potenzial an bürgerschaftlicher Engagementsbereitschaft, was merkwürdig kontrastiert mit einer teilweise destruktiven Passivität bei der Kultur. Es gibt hier eine vielseitige Stadtgesellschaft mit ganz unterschiedlichen Ansprüchen und eine hohe Angebotsqualität. Als leidenschaftlicher Theatermacher möchte ich das Schauspielhaus zu einem öffentlichen Forum gestalten für die gemeinsame Frage, wie wir in Zukunft leben wollen.“
Damit sind die Fragen nach der aufklärerischen Funktion fast schon beantwortet. „Mit der selbstreferentiellen Postdramatik hat das Theater seinen Relevanzverlust partiell selbst verschuldet. Wir brauchen auf den Bühnen wieder mehr kluge Lust und Sinnlichkeit. Dass die Welt dauernd aus den Fugen ist, ist ein alter Gemeinplatz. Viel mehr wissen wir auch nicht, haben aber Vorstellungen von Veränderungen.“ Das erstmals auf dem Bad Godesberger Theaterplatz veranstaltete Bonner Theaterfamilienfest war jedenfalls ein grandioser Anfang.

Donnerstag, 17.01.2019

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