Oberst Chabert - Oper Bonn - kultur 148 - Juli 2018

Oberst Chabert
Foto: Thilo Beu
Oberst Chabert
Foto: Thilo Beu

Ein Totgesagter, der nicht leben darf

Es ist eine doppelte Ausgrabung. Die erste szenische Aufführung der einst überaus erfolgreichen Oper seit mehr als acht Jahrzehnten. Und das Werk handelt von einem Totgesagten, der den Weg ins Leben nicht mehr finden kann. „Einst tot unter den Toten, nun tot unter den Lebenden“ steht als Motto über der beeindruckenden Inszenierung von Roland Schwab.
Die Pionierarbeit zur Wiederentdeckung des zu Unrecht vergessenen Komponisten Hermann Wolfgang von Waltershausen (1882 – 1954) hat der Bonner Operndirektor Andreas K. W. Meyer geleistet, als er als Dramaturg an der Deutschen Oper Berlin 2010 Oberst Chabert ins Programm nahm. Die semikonzertante Aufführung dirigierte dort Jacques Lacombe. Er übernahm nun auch die musikalische Leitung an der Oper Bonn und verabschiedete sich damit nach zwei Jahren als Chefdirigent.
In der Wagner-Nachfolge verfasste Waltershausen das Libretto zu seinem 1912 in Frankfurt uraufgeführten Bühnenwerk selbst. Mit sicherem dramatischem Instinkt bearbeitete er die literarische Vorlage, eine Novelle von Honoré de Balzac. Insbesondere Rosine, die einzige weibliche Figur, erhält bei ihm eine neue psychologische Tiefendimension. Um es gleich vorweg zu sagen: Die Sopranistin Yannick-Muriel Noah, seit 2013 festes Ensemble-Mitglied und in zahlreichen großen Partien präsent, gestaltet die Rolle sängerisch und darstellerisch überwältigend gut.
Ihr Gatte Graf Chabert fiel als Oberst der napoleonischen Armee in der Schlacht in Eylau bei Königsberg 1807. Die junge Witwe heiratete den angesehenen Grafen Ferraud.
Tatsächlich konnte Chabert sich schwer verwundet aus dem Massengrab befreien, und wurde von einer Bauersfrau gesundgepflegt. Niemand glaubte ihm seine Identität. Man sperrte ihn in ein Irrenhaus, bis er nach Jahren völlig mittellos endlich den Weg nach Paris schaffte. Seine Briefe an Rosine blieben unbeantwortet. Nun will er seinen guten Namen, seinen Platz in der Gesellschaft und vor allem seine geliebte Frau zurück. Der famose Bariton Mark Morouse spielt ihn als schwer traumatisierten alten Mann, der sich auf Krücken durch die halsbrecherische Trümmerlandschaft des Bühnenbildes von David Hohmann quält. Ein zerbombtes Betongehäuse, durch dessen zerfetzte Wände man weiter oben die aufgeräumte Welt der Lebenden erblickt. Chabert wird den Weg dorthin nicht mehr schaffen, sondern lebendig begraben in seiner Unterwelt bleiben.
Obwohl er den erfahrenen Anwalt Derville (hervorragend: der Bariton Giorgos Kanaris) mit der Vertretung seiner Rechte beauftragt hat. Als Hochstapler spöttisch abgefertigt wird er zunächst von dessen jungem Schreiber Boucard (David Fischer). Im Hintergrund illustrieren Video-Einspielungen (geschaffen von einem Team aus jungen Medienkünstlern: Janika Aufmwasser, Niclas Siebert und David Sridharan) die zeitlose Aktualität der Situation. Riesige Regale, in deren Labyrinth menschliche Schicksale zu Aktenzeichen werden. Zerstörte Städte vom Ersten Weltkrieg bis hin zu Syrien heute. Eine Rokoko-Wendeltreppe in Chaberts Palast, der nun von Rosines neuer Familie bewohnt wird. Ein festliches Feuerwerk, das Ängste vor Fliegerangriffen evoziert.
Oberst Chabert steht für ein Heimkehrerschicksal, wie es sie nach allen Kriegen gab und gibt. Noch virulenter für den Verlust der eigenen Identität, die durch Gewalt-Erlebnisse zu Grunde gerichtet wird. Treu zu Chabert steht nur sein ehemaliger Kriegskamerad Godeschal (exzellent wie stets: der Bass Martin Tzonev). In der sängerisch wohl schwersten Partie des Grafen Ferraud gastiert der Tenor Peter Tantsits, dessen maskulinem Charme Rosine erlegen ist. Obwohl er eher auf ihr von Chabert geerbtes Vermögen spekulierte. Rosines „Ich habe dich nie geliebt“ trifft den an Leib und Seele versehrten Chabert wie ein Keulenschlag. Schlimmer noch als ihr Flehen um Rücksicht auf die beiden Kinder, die sie in der Ehe mit Chabert geboren hat. Wenn sie die Kleinen vom Kindemädchen (Gyda Löcher, neue Leiterin der Statisterie) vorführen lässt, ist das kein bloßes Theater. Die verzweifelte Rosine ist ehrlich hin- und hergerissen zwischen ihren widersprüchlichen Gefühlen. Im Hintergrund drehen sich herbstlich kahle Bäume, während Chabert begreift, dass seine Zeit zu Ende ist. Als überlebensgroßer Schatten erscheint er den Lebenden. Bei Balzac entscheidet er sich für eine Weiterexistenz im selbst gewählten Wahnsinn. In Waltershausens musikalischer Tragödie greift er zur Pistole. Über seiner Leiche bricht Rosine sterbend zusammen. Ein Liebestod von fast Wagnerscher Wucht, der tief unter die Haut geht.
Das Beethoven Orchester unter der Leitung von Jacques Lacombe lotet die emotionalen Brüche und den Farbenreichtum des zwischen intimem Kammerspiel (es gibt nur sechs Akteure, keinen Chor) und opulenter großer Oper changierenden Werks glänzend aus. Ein Sonderlob gebührt dabei den vielen Solo-Einsätzen. Ein wenig penetrant wirkt die als Leitmotiv wiederholt zitierte Marseillaise. Waltershausen selbst vermutete, dass nicht zuletzt das zum Hindernis für die Rezeption seiner Oper wurde. Man kann indes nur spekulieren, warum das Werk auch nach 1945 nicht wieder hervorgeholt wurde. Gewiss entsprach es mit seiner spätromantischen Tonalität nicht mehr dem Zeitgeist, der einen radikalen Neuanfang einforderte. Musikalisch ist es durchaus auf Augenhöhe Waltershausens Zeitgenossen Richard Strauss und dramatisch ein absolutes Meisterstück.
Beim kurzen Innehalten zwischen den drei Akten leuchten Blendscheinwerfer in den dunklen Zuschauerraum. Das schmerzt wie die ganze Geschichte. Das Beste ist freilich, dass hier auf geradezu sensationellem künstlerischem Niveau ein Komponist und ein Stück wieder ans Tageslicht geholt werden. Ein Ereignis und ein Riesenerfolg für die Bonner Oper zum Saison-Ende. Langer, begeisterter Premierenapplaus. Leider gibt es nur noch wenige Vorstellungen. E.E.-K.

Spieldauer ca. 100 Minuten, keine Pause
Die Letzten Vorstellungen:
5.07. // 13.07.18

Mittwoch, 16.01.2019

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