Die heilige Johanna der Schlachthöfe - kultur 140 - November 2017

Die Heilige Johanna der Schlachthöfe
Foto: Thilo Beu
Die Heilige Johanna der Schlachthöfe
Foto: Thilo Beu

Der gute Mensch von Chicago


Bertolt Brecht schrieb seine „Heilige Johanna“ 1929/30 vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise und dem New Yorker Börsencrash. Das 1959, also knapp drei Jahre nach Brechts Tod, uraufgeführte Drama ist vordergründig ein dialektisches Lehrstück über die Marktmechanismen. Seine politische Aktualität liegt angesichts von Globalisierung und Digitalisierung quasi auf der Hand. Klar: Es geht um den von Marx im „Kapital“ beschriebenen industriellen Zyklus von Prosperität zu Überproduktion, Verdrängungswettbewerb, Krise, Stagnation und Aufschwung zu neuer Prosperität. Aber es ist in der Regie von Laura Linnenbaum vor allem ein Stück über die Konfrontation zweier Wertesysteme. Da ist der mächtige Fleischerkönig und Spekulant Pierpont Mauler, dem für seinen Profit jedes Mittel recht ist. Und da ist die junge Idealis­tin Johanna, Soldatin der Heilsarmee, die Gewalt grundsätzlich ablehnt und ihre bürgerliche Moral zum Maßstab allen Handelns macht.
Johanna Dark, schon durch ihren ‚dunklen‘ Namen als Nachfolgerin der historischen Jeanne d’Arc gekennzeichnet, verströmt eine Helligkeit und Angstfreiheit, die den Kapitalisten Mauler fasziniert. Johanna hat eine bescheidene Grundsicherung durch ihre Organisation, genannt die „Schwarzen Strohhüte“. Sie hilft den Armen mit heißer Suppe und warmen Worten und glaubt fest an eine höhere Gerechtigkeit, die den Erniedrigten irgendwann zuteilwerden wird. Aber die haben Hunger und verkaufen jeden Anstand für ein paar Mahlzeiten. Johanna steigt hinab in ihre Hölle und begreift, dass die Schlechtigkeit der Armen bloß deren Armut geschuldet ist.
Die Bühne von Valentin Baumeister ist eine schwindelerregend steile Treppe mit so hohen Stufen, dass bergsteigerische Fähigkeiten erforderlich sind beim Rauf- und Runterklettern. Es ist kalt auf den Schlachthöfen von Chicago, wo Tiere zu Würsten und Büchsenfleisch verarbeitet werden. Am besten gleich so sauber wie in der neuen Maschine des Fabrikanten Cridle (exzellent als feister Geschäftsmann: das neue Ensemble-Mitglied Matthias Breitenbach), wo das Schwein von oben in die Messer stürzt und dann „fallend von Stock zu Stock“ sich selbst schlachtend ganz ohne menschliches Zutun in Konsumprodukte verwandelt. Leider können sich die entlassenen Arbeiter die im Überfluss vorhandene Ware nicht mehr leisten.
Der Irrsinn gipfelt freilich in der grotesk hochgestelzten Sprache. Denn Brechts Drama ist auch eine bitterböse Parodie von Schillers Jungfrau von Orleans. Man redet häufig in klassischen Blankversen und schmückt grausame Banalitäten mit rhetorischem Pathos. Die Konzernherren tragen durchweg modische Glatze zum noblen grauen Zwirn (Kostüme: ­David Gunter). Lässig im langen schwarzen Pelzmantel beherrscht ­Wilhelm Eilers als Mauler die Szenerie. Schauspielerisch brillant pendelt er zwischen eisigem Zynismus, wohlwollender Jovialität und echter Rührung durch das Mädchen, das plötzlich die Schlachtordnung unterläuft. Die zierliche Maike Jüttendonk, die das Bonner Publikum schon als Ada in Spieltrieb und als Luise in Kabale und Liebe bezauberte, spielt die Johanna einfach grandios. Naiv und zerbrechlich, gleichzeitig ungeheuer stark auf ihrem Weg in den Untergang. Stets das Gute wollend und genau deshalb scheiternd. Tapfer vertreibt sie die Händler aus dem Tempel ihrer nach Geld gierenden Glaubensgenossen und wird umgehend aus dem Dienst entlassen.
Alois Reinhardt gibt den windigen Heilsarmee-Major Snyder, der einen bankrotten Mauler nicht mehr brauchen kann. Ein komödiantisches Glanzstück liefert ­Philipp Basener als Maulers treuer Makler Slift in kurzen Hosen, der irgendwann größenwahnsinnig die Konkurrenz auspresst. Lydia Stäubli als Fleischfabrikant Graham zappelt verzweifelt im Netz der Börsengiganten. Daniel Gawlowski spielt neben anderen Figuren überzeugend den Arbeiterführer, der zum gewaltsamen Widerstand aufruft.
Die Menschen aus Fleisch und Blut, deren Schicksal da oben verhandelt wird, sind nach ganz unten in die Statisterie verbannt. Ihren Aufstand beendet das Militär, für Maulers Rückkehr an die Spitze sorgen die Banken. Die Marktkonsolidierung geht leider nicht ohne weitere Lohnkürzungen und Massenentlassungen. Die Schaukel funktioniert wieder wie geschmiert. Die vielen unten sorgen dafür, dass einige oben bleiben. Geschunden und frierend schwingt Johanna ihren Protesthammer. Vergeblich, denn als neue Volksheldin, die ihr Leben für die Unterdrückten hingab, wird sie von den alten Machthabern enthusiastisch heiliggesprochen.
„Die Treppe existiert nur in unseren Köpfen“, lautet die schlichte Botschaft. So einfach macht es sich die Aufführung freilich nicht, sondern untersucht mit einer geradezu puristischen Ästhetik ganz ohne blutigen Naturalismus die dialektischen Verwerfungen zwischen Schlachthofhölle und Börsenzauber. Großes Brecht-Theater mit einem exzellenten Ensemble und bei der Premiere entsprechend gefeiert. Sehr empfehlenswert auch für Oberstufen-Schüler/innen. E.E.-K.
Spieldauer ca. 3 Stunden, inkl. Pause
Die nächsten Vorstellungen:
10.11. // 17.11. // 26.11. // 16.12. // 21.12. // 25.12. // 29.12.17

Freitag, 12.01.2018

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