Abraumhalde - Kammerspiele - kultur 137 - Juni 2017

Abraumhalte, Kammerspiele, Theater Bonn
Foto: Thilo Beu
Abraumhalte, Kammerspiele, Theater Bonn
Foto: Thilo Beu

Virtuoses Sprech-Panoptikum



Keine Panik – die Situation ist zwar hoffnungslos, aber auch furchtbar komisch. Elfriede Jelinek, die vor gut einem Vierteljahrhundert in Bonn als Dramatikerin entdeckt wurde, räumt erneut auf ihre Weise ab. Gräbt sich durch Materialschichten, kippt den Abraum beiseite und legt ihn auf Halde. Mit einem Bergmanns-Begriff aus dem Tiefbau hat die wortgewaltige Literatur-Nobelpreisträgerin ihr 2009 in Hamburg uraufgeführtes Werk Abraumhalde benannt. Es ist ein „Sekundärdrama“, wie sie es mittlerweile auch zu Goethes Urfaust verfasst hat. Das sind Stücke, die „kläffend neben den Klassikern herlaufen sollen“, hier neben Lessings Nathan der Weise, dem Paradestück der deutschen Aufklärung. Jelineks Konzept ist eine konstruktive Störung, ein ästhetisches Verfahren zur Problematisierung scheinbar evidenter Wirklichkeitsmodelle. Gleichzeitig auch ein selbstreflexiver Eingriff in die patriarchalen Macht- und Hierarchiediskurse von Kunst und Gesellschaft.
In den Kammerspielen hat die Schweizer Regisseurin Simone Blattner mutig die Besteigung von Jelineks intertextuellem Satzgebirge gewagt, das mit Fragmentierungen, bizarren Umwegen und assoziativen Verknüpfun

gen den Brand des Primärdramas neu entfacht, der am Ende von Nathans märchenhafter Versöhnungsutopie gelöscht zu sein schien. „Ich bin auf Geld gefasst; und er will Wahrheit (…), als ob die Wahrheit Münze wäre“ – Jelinek nimmt Nathans Überlegung zum Anlass für ihre Abrechnung mit der vierten Religion: Geld, zum Wert erklärt und geheiligt durch bloße Schriftzeichen. Die Welt ist mutiert zu einer universalen Börse, in der alles zum Tausch angeboten wird: Religion gegen Kapital, Aktien und Kredite gegen Glauben, Immobilien gegen Körper, Leben gegen Gräber, ein Paradies mit 72 Jungfrauen gegen ein Attentat mit möglichst vielen Toten. Und immer wieder mischt sich Josef Fritzl ein, der im niederösterreichischen Amstetten seine Tochter jahrelang in einem Keller gefangen hielt und mit ihr heimlich sieben Kinder zeugte. Die unterirdische Bunker-Familie eines sexsüchtigen, chauvinistischen, kleinbürgerlichen Tyrannen. Verkauft als Mediensensation mit kurzer Halbwertszeit.
Auf der Bühne sieht man glücklicherweise davon nichts, sondern eine irrwitzige visuelle Dekonstruktion, die Jelineks Sprechmusik virtuos zum Klingen bringt. Anspielungen auf das Primärdrama, inszeniert von Volker Lösch, sind unübersehbar und gewollt, von der einsamen Palme bis zum reclamheftgelben Hintergrund. Eine drehbare Dachstuhl-Konstruktion aus rußigen Balken (Bühnenbild: Martin Miotk) liefert den Schauplatz für die sechs Figuren. Bernd Braun mit baro­ckem Reifrock und starrer Lockenperücke wie aus Velasquez‘ „Las Meninas“ (fabelhafte Kostüme: Andy Besuch) zelebriert die Werte der Vergangenheit grandios. Daniel Breitfelder mit Leopardenfell­shorts, Muskel-Attrappe und Spielzeugschwert sieht aus wie eine Mischung aus Siegfried und Trump. Sören Wunderlich gibt den schillernden Plastik-Cowboy, Holger Kraft den zipfelmützigen Gartenzwerg und Philipp Basener das Schweinchen mit glitzergrünem ­Overall. Im Hintergrund hüpft gelegentlich ein ergrauter Häuslebauer-Boygroup-Chor herum.
Wirklich lebendig in diesem grotesken Männer-Panoptikum ist die Frau. Laura Sundermann in wechselnden roten Outfits gibt die fromme Dienerin, die feurige Widerrednerin (inkl. Zitaten aus Sophokles‘ Antigone) und die elegante Businessdame, die am Ende dankend kapituliert vor dem brutalen männlichen Witzfiguren-System und im dottergelben Hosenanzug barfuß dem Bargeld huldigt. Das freilich noch zu entheiligen und zu entkeimen ist, bevor es unheimlich alle Werte zerstört. Zugegeben: Viel Neues erzählt die Aufführung mit ihren allfälligen Blasphemien und lustvollen Provokationen kaum. Aber mit kostbarer spielerischer Sinnlichkeit eine Menge über das verlogene Gerede zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Insofern eine zu Recht mit langem Premieren-Beifallsjubel belohnte Vorstellung.

Spieldauer ca. 1½ Std., keine Pause
Die nächsten Vorstellungen:
7.06. ? 11.06. ? 23.06. ? 29.06. ? 1.07.17 ? 6.07.17 ? 14.07.17

Dienstag, 12.09.2017

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