BND - Big Data is watching you - Kammerspiele - kultur 137 - Juni 2017

BND - Big Data is watching you
Foto: Thilo Beu
BND - Big Data is watching you
Foto: Thilo Beu

Das unsichtbare Gift der Überwachung


Der Schrecken des Ausgespähtwerdens ist weniger bildmächtig als die Terrorangst, schrieb der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen im November 2016 in der „Zeit“ und forderte „Skandaldidaktiker aus der Welt der Kunst“, die das „Abstrakte anschaulich werden lassen“. Der allgegenwärtigen Überwachung fehle die sinnliche Erfahrbarkeit. Wir sind gefangen im Netz, aber die Empörung bleibt gering. Obwohl wir wissen, dass Daten gezielt gehackt oder Falschmeldungen verbreitet werden, um beispielsweise politische Wahlen zu beeinflussen.
Das Bonner Schauspiel hat das brisante Thema aufgegriffen. Ein großes Foto der Dienststelle des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik an der Godesberger Allee ist zu sehen, bevor das Personal des „Recherche-Thrillers“ von Simon Solberg auftritt. Der Regisseur und sein Team haben intensiv geforscht in dem unübersichtlichen Komplex aus Datenschutz und Überwachung, Bundesnachrichtendienst und internationalen Geheimdiensten. Trotz eingeblendeter Dokumente und dramaturgisch geschickt in die Dialoge eingebauter Informationen (z.B. zur dunklen Geschichte des BND) ist BND – Big Data is watching you kein Dokumentarstück, sondern ein hochspannender Psychokrimi. Was geschieht mit uns, die wir im Suchfeld von ­Google ‚freiwillig‘ viel von uns preisgeben und eine Wanze namens Smartphone überall mit uns herumtragen? Was geschieht mit den gespeicherten irrsinnigen Datenmengen und deren Verknüpfung?
Die auf der Kammerspielbühne erzählte fiktive Geschichte ist in Bonn angesiedelt und beginnt vor wenigen Monaten mit dem Terroranschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt am 19.12.2016. Mit dem Slogan „Digitalisierung braucht Experten für Cybersicherheit“ wirbt das BSI um Nachwuchs – der BND nimmt aus Sicherheitsgründen keine Praktikanten mehr an und vergibt derzeit auch keine Master-Arbeiten. Tim Francke, qualifiziert mit einem sehr guten Informatik-Bachelorabschluss, bekommt den begehrten Job beim BSI, während sein Freund Micha seinen Verletzungen erliegt. Benjamin Berger spielt fabelhaft genau den naiven Computer-Nerd, der in ein geheimnisvoll verflochtenes Netz von internationalen Beziehungen gerät.
Die Kontakte zu seiner schwangeren Verlobten Nadine (Lara Waldow) werden gekappt. An der langen Leine des erfahrenen Abteilungschefs Schmidt – glänzend auch in diversen anderen Rollen: Wilhelm Eilers – wird er „Single“, bestens motiviert durch persönliche Betroffenheit. An der kurzen Leine geführt vom harten Hund Hammer, der gern seine Kopfhörer gegen Fäuste tauscht und eigenmächtig Flüge in verminte Gebiete bucht. Glenn Goltz als Möchtegern-Bond im Dienst der Majestät des Volkes gibt den einsamen Wolf in der Info-Wüste. Manuel Zschunke ist u.a. der coole IT-Spezialist Streicher und der kluge Journalist Kaspar, der leider als Leiche endet. Ansehnlich wie das ­bizarre Albtraum-Ballett mit weißen Tutus (Kostüme: Linda Tiebel).
„Findet Gruber“, den Hintermann von Anis Amri (er wurde bekanntlich mehr oder minder zufällig in Mailand erschossen), lautete der Auftrag. In „Fucking Auerberg“, in Damaskus oder Marrakesch. Schlaflos Tabletten oder Chips einwerfen ist ebenso erlaubt wie ­Flaschenbier. Derweil genießt Schmidt mit Nadine Champagner in einem Berliner Luxushotel. Was Tim erst zum Kotzen und dann auf den nüchternen Gedanken bringt, dass einige aus Daten konstruierte Identitäten nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben. Das Überwachungssystem (über seine Effizienz zu reflektieren, liegt angesichts aktueller Vorfälle nahe, deren ‚Wirklichkeit‘ rasant alle virtuellen Modelle übertrifft) nährt sich selbst aus Big Data, Terrorangst und Kapitalinteressen. Whistleblower könnten dabei durchaus ins Kalkül passen, massive Störfaktoren wie Denken und Gefühle eher nicht.
Die Aufführung zeigt mit sinnlicher Intelligenz und spielerischer Energie ein brandaktuelles Problem. Wer sind wir, wenn das Netz jeden kennt und daraus mechanisch schließt, was passiert? Ist Tim am Ende selbst der gesuchte Gruber oder bloß ein Testfall in einem wahnsinnig aufgeblähten Apparat? Im Theater stellt sich die Frage nach Sein und Schein sowieso. Hier sind jedoch alle Akteure Schauspieler in einem verwirrenden Lügen-Konstrukt, das bösartig amüsiert und echte Fragen stellt. Auftrag erfüllt: Sinnlich konzentrierter Stoff zum Nach-/Weiterdenken und bei der Premiere mit entsprechendem Beifall belohnt. Entschieden sehenswert! E.E.-K.

Spieldauer ca. 1½ Std., keine Pause
Die nächsten Vorstellungen:
2.06. ? 14.06. ? 18.06. ? 24.06. ? 8.07.17


Dienstag, 12.09.2017

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