Gastspiele Royal Ballet Flanders und Compagnie Hervé Koubi - Oper Bonn- kultur 135 - April 2017

Tanz-Highlights

Van Manen / Cherkaoui
mit dem Royal Ballet Flanders
Die Generaldelegation der Regierung Flanderns begrüßte alle Zuschauer mit einem Glas Sekt zur Deutschland-Premiere des vierteiligen Abends, mit dem der Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui 2015 seinen Einstand als neuer künstlerischer Leiter des Royal Ballet Flanders gab. Es ist Belgiens einzige akademisch trainierte klassische Ballettcompagnie. Cherkaoui (*1976), als Sohn marokkanischer Eltern in Antwerpen aufgewachsen, verneigt sich mit dieser Produktion vor dem niederländischen Altmeister Hans van Manen (*1932), einem der großen Erneuerer des europäischen Tanzes. Dessen 1975 für das Royal Ballet London kreierte Four Schumann Pieces machten den Anfang. Es ist ein Künstlerdrama: hinter dem Solotänzer im weißen Trikot kann man getrost den Komponisten Robert Schumann vermuten. Fünf Paare, deren schwarzweiße Kostüme die Biedermeierzeit andeuten, huschen hinter ihm vorbei. Alle Annäherungsversuche an diese Schattenwesen scheitern. Zurück bleibt ein einsamer, in seiner Eitelkeit gefangener Melancholiker.
Auf den neoklassisch und hoch musikalisch getanzten ätherischen Traum folgte pralle Sinnlichkeit in Cherkaouis Choreografie des legendären Fauns. Der ist ein Mischwesen, halb Mann halb Tier. Naiv verspielt voller animalischer Kraft. Ihm beigesellt ist hier ein weiblicher Gegenpart, die verführerische Waldnymphe. In ihrem Duett voller überraschender Bewegungen und Effekte entwickelt sich eine erotische Spannung, die an Platons Mythos vom Kugelmenschen erinnert, als die Geschlechter noch eine körperliche Einheit bildeten.
Wahnwitzig schnell ist das dreifache Solo zu Passagen aus Johann ­Sebastian Bachs b-moll-Partita für Violine solo. Gerade mal sechs Minuten dauert dieser atemberaubende Bewegungswirbel, 1997 choreografiert, immer noch ein Hit aus van Manens Kreativ-Werkstatt und im ausverkauften Opernhaus entsprechend bejubelt.
Den Schluss der dramaturgisch raffiniert aufgebauten Vorstellung behielt sich der ungemein aktive Cherkaoui selbst vor. Fall ist seine erste Kreation für das Königliche Ballett von Flandern. Von Windmaschinen aufgeblähte und farbig beleuchtete Stoffbahnen umgeben die 28 Tänzerinnen und Tänzer, die zur meditativen Musik von Arvo Pärt fabelhaft biegsam die Möglichkeiten des Fallens und Aufstehens zelebrieren. Wunderschön wie Blätter im Herbstwind und damit ästhetisch wieder nahe an van Manens leisem Schumann-Schattenspiel zu Beginn. Nach knapp zwei Stunden inkl. Pause gab es großzügigen Beifall.

„Ce que le jour doit à la nuit“
mit der Compagnie Hervé Koubi
Zweieinhalb Wochen später folgte der totale Kontrast. Straßentänzer seien sie, erklärte der Choreograf Hervé Koubi in seiner kurzen Begrüßungsansprache. Sechzehn muskulöse, schöne junge Männer, überwiegend aus Nordafrika, wirbelten bei dem Bonner Gastspiel seiner Compagnie in der ausverkauften Oper über die Bühne. Mit freiem Oberkörper, weißen Röcken über weißen Hosen, ungemein athletisch und dennoch mit einer traumhaften tänzerischen Leichtigkeit. Sie verbinden die Powermoves des Hip-Hop mit modernem Ballett und dem ekstatischen Kreisen von Derwischen. Atemberaubende Salti und rasend schnelle Pirouetten auf dem Kopf wechseln sich ab mit ruhigen Momenten und großen Ensemble-Szenen, die an das feine Gewebe orientalischer Architektur und arabischer Schriftzeichen erinnern. Manchmal formieren sich die Körper zu vielfigurigen Skulpturen, um dann wieder auseinander zu driften in individuelle Bewegungen. Zu der fabelhaften Körperbeherrschung kommt ein tiefes gegenseitiges Vertrauen, wenn einer in die Luft geworfen wird oder sich aus großer Höhe fallen lässt in die starken Arme seiner Mittänzer.
In dem nur von magischem Licht gestalteten Bühnenraum wirkt Ce que le jour doit à la nuit (Die Schuld des Tages an die Nacht) gelegentlich wie eine geheimnisvolle Luftspiegelung oder ein fernes mys­tisches Ritual. Dabei verbinden sich die modernen Soundstrukturen des Franzosen Maxime Bodson nahtlos mit der Klangsprache des ägyptischen Komponisten Hamza El Din, traditioneller Sufi-Musik und Johann Sebastian Bachs Passions-Dramatik. Eine linear erzählte Handlung gibt es in dem gut ­60-minütigen Tanzstück nicht. Den poetischen Titel verdankt das beeindruckende Werk dem gleichnamigen Roman von Yasmina Khadra – hinter diesem Pseudonym verbirgt sich der in Frankreich lebende algerische Schriftsteller Mohammed Moulessehoul. Khadra imaginiert eine Reise ins Algerien der 1930er Jahre, wo ein kleiner Junge glücklich in einer arabischen Familie aufwächst, bis Krieg und Terror seine friedliche Welt zerstören. Hervé Koubi, als Sohn algerischer Emigranten in Cannes geboren, ließ sich davon zur Erforschung seiner nordafrikanischen Wurzeln und der Tag- und Nachtseiten des ­Maghreb inspirieren.
Das ästhetische Ergebnis ist von geradezu überwältigender Kraft, die unbändige Lebensfreude mit selbstbewusster Spiritualität verbindet. Ovationen für das große Ensemble und den Choreografen, der seine ‚Straßentänzer‘ zu einer bühnenreifen, künstlerisch hervorragenden Truppe geformt hat, die längst weltweit Aufsehen erregt.


Vielleicht findet sich in der Bonner Oper mal jemand, der die Programmzettel sprachlich überarbeitet. Die von Burkhard Nemitz höchst erfolgreich kuratierten Tanzgastspiele mit einer sensationellen Gesamtauslas­tung von über 92 % verdienen durchaus mehr Aufmerksamkeit vom Leitungsteam des Hauses. E.E.-K.

Donnerstag, 31.08.2017

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