Bilder von uns (Uraufführung) - Werkstatt - kultur 124 - März 2016

Bilder von uns, Theater Bonn
Foto: Thilo Beu
Bilder von uns, Theater Bonn
Foto: Thilo Beu

Kampf um die Erinnerung

Jesko Drescher hätte fast eine Kindergruppe überfahren. Er war ziemlich verwirrt, denn irgendjemand hatte ihm anonym ein Foto aufs Handy geschickt. Ein Bild von sich als unbekleideter kleiner Junge. Aus der Zeit, als er Schüler an einem von Jesuiten geführten Elitegymnasium war.
Thomas Melles neues Stück Bilder von uns beginnt fast wie ein Krimi. Alle Figuren sind fiktiv; Parallelen zu den realen Geschehnissen am Bad Godesberger Aloisiuskolleg, an dem der in Bonn aufgewachsene Autor sein Abitur machte, sind zwar erkennbar, aber nicht Thema der Verhandlung. Es geht nicht um die allfälligen Missbrauchsskandale und nicht um Pädophilie als Straftat. Sondern um das Recht auf die Wahrnehmung der eigenen Vergangenheit und die subjektiven Bilder davon.
Hausregisseurin Alice Buddeberg, die mit Melle bereits bei Shakespeares Königsdramen zusammenarbeitete, hat die Uraufführung sehr präzise und sensibel inszeniert: Eine dramatische Versuchsanordnung ohne überflüssige Zutaten. Das nüchterne Bühnenbild (Cora Sailer) ist eine Art Stuhlkreis wie bei therapeutischen Gesprächsrunden. Im Zentrum steht Jesko, erfolgreicher Verlagsmanager, perfekte Familie, tadelloser Work-Flow. Benjamin Grüter spielt diesen Intellektuellen zwischen Zynismus, Zweifel und Zerfall beeindruckend genau. Er weiß: Es ist nur ein relativ harmloses Bild, das in seine sorgfältig geordnete Welt eingedrungen ist und plötzlich frühe Erfahrungen in ein anderes Licht rückt. Gab es wirklich sexuelle Übergriffe? War er selbst ein Opfer? Seine Gattin Bettina (Mareike Hein) ist auf der folgenden psychischen Achterbahn zwar beherzt an seiner Seite, aber die Frauen bleiben eher Randfiguren im Kampf um die Selbstfindung verstörter Seelen zwischen Verdrängung und Aufklärung.
Weitere Fotos folgen, Jesko macht sich auf die Suche nach dem Absender. Und nach ehemaligen Schulkameraden. Hajo Tuschy spielt glänzend den smarten Marketingspezialisten Malte, der nach strikter Enthüllung der Missbrauchsfälle verlangt und sie rücksichtslos ans Licht der Medien bringen möchte. Holger Kraft (Gast im Ensemble) gibt in einer Art Anwalts-Kanzel den nüchternen Karriere-Juristen Johannes, der entschieden dafür plädiert, die alte Sache auf sich beruhen zu lassen. Er wird den Brief unterzeichnen, der die positiven Erziehungsleistungen der renommierten Schule hervorhebt. Bei Konstantin haben sie offenbar nicht gefruchtet. Benjamin Berger verkörpert überzeugend den am Leben Gescheiterten, der trotz der Bemühungen seiner Freundin Sandra (Lydia Stäubli) an der öffentlichen Skandal-Debatte zerbricht. Der verzweifelte Jesko beginnt eine tödliche Affäre mit der Lehrerin Katja (Johanna Falckner).
Melles Text mischt raffiniert Vergangenheit und Gegenwart. Regisseurin Buddeberg macht daraus hochdifferenziertes Erzähltheater. Die Gesichter der auf unterschiedliche Weise betroffenen Akteure gewinnen, per Live-Kamera-Projektionen vergrößert, eine ungeheure Präsenz. Die Aktbilder aus der Sammlung des Täters werden in der Vorstellung glücklicherweise nicht gezeigt. Am Ende wird ein zerstörtes Handy daliegen, weil die Einsicht „Das bin ich“ unerträglich wurde.
Die auch in den überregionalen Medien viel beachtete Inszenierung ist kein schlichtes Dokumentartheater, sondern echtes Theater für eine Stadt, in der lange Verschwiegenes und Verdrängtes geschah. Vor allem ist es jedoch ohne Anklage eine hochspannende Reflexion über die Deutungshoheit an Bildern, die das eigene Selbstsein in Frage stellen. Schauspielerisch hervorragend, empfehlenswert für erwachsene Zuschauer, nicht für Jugendliche. E.E.-K.

Spieldauer ca. 1¾ Stunden, keine Pause
die Nächsten Termine :
5.03. // 10.03. // 15.03. // 31.03. // 22.04.16

Donnerstag, 07.07.2016

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