Werther - Kammerspiele - kultur 123 - Februar 2016

Benjamin Berger (Werther)
Foto: Thilo Beu
Benjamin Berger (Werther)
Foto: Thilo Beu

Sehnsucht und Verzweiflung



„Musste denn das so sein, dass das, was des Menschen Glückseligkeit macht, wieder die Quelle seines Elendes würde?“, schreibt der junge Werther am 18. August 1771. Ein sentimentaler Feuerkopf, schwankend zwischen „Lebenswonne“ und tiefer Melancholie, Widerstand gegen die erstarrte Gesellschaft mit ihren einengenden Konventionen und Begeisterung für die unendliche Natur, die Kunst und die Liebe. Spätpubertär todessehnsüchtig („ich möchte mir eine Ader öffnen, die mir die ewige Freiheit schaffte“), rasend vor Begehren und Eifersucht. Der junge Dichter Goethe traf mit seinem 1774 erschienenen Briefroman Die Leiden des jungen Werthers das Lebensgefühl der Heranwachsenden seiner Epoche. Und trifft es gut 240 Jahre später immer noch: Kaum eine literarische Figur gewann je einen solchen Realitätswert – unabhängig von den Bezügen zur Biographie ihres Erfinders. „Werther“ wurde der erste internationale Bestseller, verschaffte seinem Autor den ‚Durchbruch‘ und den gesellschaftlichen Aufstieg.
„Man las das Buch wegen des Totschießens“, schrieb Heinrich Heine 1828 leicht hämisch. Mit 27 Jahren totgeschossen hat sich 1994 der amerikanische Popmusiker Kurt Cobain, legendärer Frontmann der Band „Nirvana“. Hausregisseurin Mirja Biel hat Passagen aus seinen Tagebüchern kurzgeschlossen mit Werthers Briefen. Das funktioniert überraschend gut. Gerade weil sie die Bruchkanten zwischen der stürmisch wilden Sprache des alten Textes und der wütenden ­Grunge-Poesie nicht verschleift. Ihre Inszenierung, die 2008 in Göttingen herauskam und nun für Bonn überarbeitet wurde, ist schrill, aber gleichzeitig hochsensibel. Benjamin Berger, der in der ersten Fassung schon dabei war, spielt den Werther-Cobain gespenstisch intensiv. Ein besoffener Romantiker, drogenkrank, manisch auf der Suche nach bewusstseinserweiterndem Stoff für seine innere Leere und Linderung seiner existenziellen Schmerzen. Die Bühne von Luisa Pahlke (auch verantwortlich für die Kostüme) ist ein schmaler Streifen vor dem geschlossenen eisernen Vorhang, der als Projektionsfläche für Video-Aufnahmen und verzerrte Vergrößerungen dient. Diese Welt ist schlicht zu klein für die nach Unbegrenztheit verlangende Seele.
Man las und liest Werther natürlich auch als Love-Story. Die fabelhafte Johanna Falckner mutiert von der kleinbürgerlichen Lotte im niedlichen Ballett-Tütü schnell zum verführerischen Party-Vamp Courtney Love. Die Ehe mit dem Skandal-Girl tat Cobain sicher nicht gut, aber gewiss dem Konto seiner Witwe. Werthers Lotte heiratete bekanntlich den braven Alfred. Robert Höller verkörpert den konservativen Besserwisser (inkl. sportlichem Boxkampf mit dem Rivalen) glänzend und sorgt mit Texten des ins neoliberale Lager abgewanderten Poptheoretikers Ulf Poschardt für sanfte Schauer. Cobain-Werther brennt indes für seine Ideale – „It’s better to burn out than to fade away“ – und revoltiert gegen alle Identitäts-Zuschreibungen (inkl. Geschlechterrollen). Und so gibt’s unter Einsatz von Leitern und viel Bühnennebel zum Schluss auch noch eine hübsch beflügelte Apotheose. Pop-Werther verklärt im Nirvana. Selbstverständlich mit Musik.
Goethes Romanheld wird’s überleben. Die Vorstellung in den Kammerspielen taugt kaum als Schullektüre-Ersatz, könnte aber bei vielen Jugendlichen das Interesse daran wecken. Wie vielen der Name Cobain noch etwas sagt, wissen wir nicht. Der Club 27 bekam indes 2011 Verstärkung durch Amy Winehouse. E.E.-K.

Spieldauer ca. 1½ Stunden, keine Pause
die Nächsten Termine :
30.01. // 12.02. // 4.03. // 11.03. // 16.03. // 24.03. // 22.04.16

Dienstag, 16.02.2016

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