Spieltrieb - Werkstatt - kultur 120 - November 2015

Spieltrieb
Foto: Theater Bonn
Spieltrieb
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Urenkel der Nihilisten



„Was, wenn die Urenkel der Nihilisten längst ausgezogen wären aus dem staubigen Devotionalienladen, den wir unsere Weltanschauung nennen?“, fragt sich die Erzählerin am Anfang. Es ist der erste Satz in Juli Zehs 2004 erschienenem Roman Spieltrieb, den die junge Regisseurin Laura Linnenbaum zusammen mit der Dramaturgin Johanna Vater nach diversen anderen Dramatisierungen neu für die Bühne bearbeitet hat. Die in der Werkstatt auf wenige Figuren reduzierte Geschichte spielt in einem Bonner Privatgymnasium, hinter dem unschwer die Bad Godesberger Otto-Kühne-Schule erkennbar ist, an der die 1974 in Bonn geborene Autorin ihr Abitur machte. Spieltrieb ist ein Adoleszenz-Roman mit Anklängen an Robert Musils Frühwerk Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Hier wie dort stehen im Zentrum gelangweilte intellektuelle Jugendliche, die sich ein Opfer suchen und es erpresserisch demütigen.
Wobei es Ada und Alev kaum um amoralisches Verhalten und rebellische Grenzüberschreitungen geht. Werte sind ihnen gleichgültig, nichts hat einen Sinn für diese ‚coolen‘ Teenager. Sie haben, wie Ada einmal sagt, nicht einmal etwas, an das sie nicht glauben können. Ausgestattet mit beträchtlichen Kenntnissen philosophischer Grundfragen und Theorien, wollen sie rein spielerisch ausprobieren, wie weit man gehen kann und welchen ‚Kick‘ das bringt.
Maike Jüttendonk, neu im Bonner Ensemble (zuvor in Münster engagiert und 2013 gleich in „Theater Heute“ als beste Nachwuchsschauspielerin nominiert), verkörpert vollkommen überzeugend die 15-jährige Ada. Eine hochbegabte Schülerin, die lässig ihren Lehrern Paroli bietet und die „Prinzessinnen“ verachtet, die vor allem Wert auf ihr Äußeres legen. Im schlabbrigen Kapuzen-Shirt zieht sie einsam ihre Runden auf dem Schulhof, eine Außenseiterin unter Außenseitern. Das außerunterrichtliche Lauftraining mit ihrem Sportlehrer Smutek absolviert sie ohne Ehrgeiz und irgendeinen Lolita-Komplex. Ihr Interesse weckt dagegen der neue Mitschüler Alev, exzellent gespielt von Manuel Zschunke, ebenfalls ein Neuzugang am Bonner Schauspiel. Der 18-jährige Alev ist ein ebenso brillanter Kopf und unverschämt selbstgefälliger Einzelgänger – schmal, skrupellos und weltläufig. Dass er gleich Musils Mann ohne Eigenschaften als Klassenlektüre vorschlägt, spricht für sich. Alev gibt sich völlig emotionsfrei und zudem impotent, also erotisch neutral. Ungerührt schaut er deshalb Adas blutiger Selbstentjungferung zu, die bereits Teil eines diabolischen Plans ist.
Die eindrucksvoll variable Bühne von Valentin Baumeister wird zum eisigen See, aus dem Ada bei einem Schulausflug Smuteks Frau rettet, und zur weiß gekachelten Dusche, in der sie ihren Lehrer verführt. Auf dem Plastikvorhang erscheinen die Videos, mit denen Alev per Life-Kamera die Vorgänge festhält und Smutek damit erpressbar macht. Alev bestimmt, wann er Sex mit Ada haben muss. Benjamin Grüter spielt ungemein genau die komplexen Verwirrungen des aus Polen emigrierten Deutsch- und Sportlehrers, der seine depressive Gattin „Schneewittchen“ nennt. Die Warnungen seiner erfahrenen Kollegin Höfi ignoriert er und tappt geradeswegs in die demütigende Falle der jungen Zyniker.
Ursula Grossenbacher gibt souverän und leicht maskulin (im Roman ist Höfi ein Mann) die kluge, sensible Lehrerin, vor der sogar Ada Respekt hat und eine Spur von Empathie entwickelt. Höfis spektakulärer Selbstmord raubt ihr das letzte Vertrauen in eine Welt, die alles rational in Zweifel zieht und auf Spiel-Entscheidungen reduziert. Ada verweigert sich jedoch nach einigen Wochen Alevs Machtanspruch und steigt aus den Berechnungen aus, die ihm ohnehin langweilig geworden sind. Alevs spöttische Beendigung des Spiels quittiert Smutek mit einem wütenden Gewaltausbruch.
Als Richterin im anschließenden Prozess erscheint wieder Ursula Grossenbacher, was nicht nur der im Roman angelegten narrativen Engführung zwischen Ada und der gereiften „kalten Sophie“ entspricht. Ada hat begriffen, dass das Leben kein einfaches Spiel mit beliebig steuerbaren Figuren ist. Die vier großartigen Darsteller machen aus der hervorragenden Inszenierung (die Video-Projektionen sind diesmal Thema und keine bloße Zutat) einen beklemmend aktuellen Abend, den man nicht verpassen sollte.

Juli Zeh ist gleich zwei Mal auf dem Spielplan präsent. Am 4. November wiederaufgenommen wird die erfolgreiche Werkstatt-Produktion „Nullzeit“ nach ihrem gleichnamigen Roman. Die Uraufführung in der Regie von Sebastian Kreyer fand im März 2014 statt. Der irrwitzige Psychokrimi auf Lanzarote mit diversen Tauchstationen und verteufelten Abgründen macht Spaß. Zumal das glänzende Schauspielerquartett die pausenlosen 1 ¾ Stunden zwischen Tiefsee und Tiefsinn mit allerhand Überraschungen füllt. E.E.-K.

Spieldauer ca. 1 ¾ Stunden, keine Pause
die Nächsten Termine :
6.11. // 21.11. // 25.11. // 28.11.15
Geeignet für Publikum ab 15 Jahren. Nicht empfehlenswert für Menschen, die Probleme mit Stroboskop-Licht (nur ganz kurz eingesetzt) haben.

Donnerstag, 26.11.2015

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