Tanz-Highlights aus Israel und Spanien - kultur 118 - Juli 2015

Kibbutz Contemporary Dance Company / María Pagés

Der Kreis ist ein wiederkehrendes Motiv in Rami Be’ers Choreographie If At All, die er 2012 für seine Kibbutz Contemporary Dance Company geschaffen hat. Ihr brillantes tänzerisches Können, ihre athletische Kraft und ihr fabelhaftes Ausdrucksvermögen bewies die KCDC im zweimal fast ausverkauften Bonner Opernhaus.
If At All, unzulänglich ins Deutsche übersetzbar als „Wenn überhaupt“, beginnt still. In einem Lichtkreis auf der dunklen Bühne, in deren Hintergrund ein kleiner gelber Vollmond leuchtet, zelebriert eine Tänzerin ein meditatives Solo. Leise erklingt die ständig wiederholte Zeile „I’m building a sill to slow down the time“ aus Bon Ivers Woods. Bis eine Männerhorde in schwarzen langen Röcken hereinstürmt, die Frau umkreist und dann im Vordergrund zu Boden geht. Immer wieder springt einer auf für ein kurzes rasantes Solo. Frauen in knappen schwarzen Kleidern mischen sich in die Szenerie, mal kokett verführerisch, mal mit selbstbewusster Energie. Man hört keuchenden Atem und Kinderlachen, bis Explosions- und Schussgeräusche zu stampfenden Rock-Rhythmen den Einbruch von Gewalt signalisieren. Denn If At All hat zwar keine durchgängige Handlung, ist aber keineswegs unpolitisch. Es schildert den Kreislauf der Gefühle und Stimmungen, der wiederkehrenden Ängste und Konflikte.
Unter die Haut geht eine Szene, in der die Männer eine Frau wie ein gefangenes Tier hereintragen. Schutzlos im hautfarbenen Kos­tüm, das Gesicht verborgen hinter ihrem flatternden schwarzen Haar, wehrt sie sich vergeblich gegen die brutale Übermacht. Ganz andere Emotionen beschwört später ein Paar auf einem See aus blauem Licht: „as our last lost chance“. In virtuosen Duetten, Terzetten und Ensembles umkreisen die barfüßigen Tänzerinnen und Tänzer den Kampf um eine eigenständige Existenz im Zyklus des Lebens. Der stabile kleine Mond könnte dabei am Ende auch eine Sonne sein. Denn in farbenfrohem Licht und weißen Kleidern heben sie den Kontrast der Geschlechter ebenso auf wie die unbarmherzig laufende Zeit. Sie schweben in einem imaginären, aber körperlich perfekt geerdeten Raum als flüchtige, bildmächtige Utopie. Bis zur nächsten Runde. Wenn überhaupt. Abruptes Black im ewigen Dauerlauf nach einer atemberaubenden Stunde, die mit ihrer ästhetischen und inhaltlichen Intensität und ihrem raffinierten Wechsel von Ruhe und Tempo das Bonner Publikum zu einem Beifallssturm hinriss.



Ovationen erntete wenige Tage später die Andalusierin María Pagés mit ihrem Autorretrato, uraufgeführt 2008 in Tokyo und seitdem weltweit gefeiert. Es ist ein tänzerisches Selbstbildnis, das vom Studio hinter die Kulissen und schließlich zur Freiheit der Bühne führt. Pagés, eine der besten Flamenco-Tänzerinnen der Welt, verbindet die harten Rhythmen und das Staccato der Absätze und Kastagnetten mit geschmeidigen Bewegungen aus der Körpermitte und dem Spiel ihrer schier endlosen Arme. Ihre stupende Ausdruckskraft bringt sogar die Sprache zum Tanzen, wenn sie nachdenklich ihr Haus voller Poesie öffnet und den portugiesischen Dichter José Saramago zu Wort kommen lässt, der ein großer Verehrer ihrer Kunst war. Vor den Spiegeln im Studio scheint sie mit ihrem reflektierten Ebenbild zu verschmelzen. Selbstironisch zeigt sie sich später mit ihrer kleinen Compagnie (drei Männer, drei Frauen) in Goldrahmen wie Gemälde aus vergangenen Zeiten.
Zwischen gespannter Ruhe und rasanter Fußarbeit hebt sie die traditionelle Bodenhaftung des Flamenco auf und öffnet ihm neue Dimensionen. Angefeuert von ihrer musikalischen Familie: Schlagzeug, zwei Gitarristen, eine Violine und vor allem die beiden Sänger Ana Ramón und Juan de Mairena, die die fremdartige Klangwelt des Flamenco eindringlich zelebrieren. Wie eine Königin taucht María Pagés am Schluss aus ihren Erinnerungen wieder auf und entfacht mit einem kunstvoll um ihren Körper wirbelnden weißen Tuch einen regelrechten Rausch der Gefühle. Kühl selbstbewusst und brandheiß. Das begeisterte Publikum erklatschte sich nach gut 70 aufregenden Minuten noch eine Zugabe.

In den Genuss der internationalen Premiere kam das Bonner Publikum kurz danach mit Carmen von der Compañía Nacional de Danza aus Madrid in der Choreographie des Schweden Johan Inger. Die neue Interpretation des bekannten Stoffes mit der führenden spanischen Ballett-Truppe wurde erst im April 2015 uraufgeführt und war in Bonn zum ersten Mal außerhalb Spaniens zu erleben. Ein ballspielendes Kind (knabenhaft: Jessica Lyall) beobachtet neugierig das Geschehen und wird nach und nach hineingezogen in die Geschichte von Leidenschaft und mörderischer Eifersucht. Unschuldig erscheint anfangs auch die flatterhafte Erotik der jungen Carmen – im feuerroten kurzen Kleid hinreißend getanzt von der Isländerin Emilia Gisladöttir. Aber die leicht entflammbaren bunten Flügel der Liebe sind kein Kinderspaß. Zwischen den beweglichen, auf einer Seite verspiegelten Bühnenwänden wird aus dem unschuldigen Getändel blutiger Ernst. Carmen ist hin und her gerissen zwischen dem Torero-Macho Escamillo, dem eleganten Leutnant Zuñiga und dem braven Sergeanten Don José (hervorragend: Dan Verwoort). Der wird schon im ers­ten Akt von allen Hunden seiner Passion gehetzt, bevor im zweiten Akt die fins­teren Schatten der tödlichen Liebesmas­kerade sich ausbreiten. Das spielende Kind (die naive Micaëla, Carmen und José, jung und unverletzt, bevor ihre fatale Begegnung sie in einen tödlichen Strudel zog?) bleibt zurück nach dem Traum von einer glück­lichen Familie. Oder war auch das nur ein Albtraum?
George Bizets franko-hispanische Musik durchläuft dabei nach Rodion Schtschedrins russischer Verfremdung noch mal den elektronischen Beat-Härtetest des jetzt angesagten spanischen Film- und Theaterkomponisten Marc Álvarez. Klingt aber gut und ist genau der Sound einer Carmen, die von einer legendären Femme fatale des 19. Jahrhunderts zum Kind unserer Zeit mutiert ist. Brillant vertanzt von der besten am klassischen Ballett orientierten Truppe Spaniens. Ein Ereignis der Spitzenklasse zum Abschluss der Bonner Tanz-Highlights-Saison 14/15. Die renommiertesten Truppen der Welt planen mittlerweile übrigens gern Gastspiele oder sogar europäische Tournee-Starts in der internationalen Stadt am Rhein ein. E.E.-K.

Dienstag, 22.09.2015

Zurück

Merkliste

Veranstaltung

Momentan befinden sich keine Einträge in Ihrer Merkliste.


Letzte Aktualisierung: 15.04.2024 21:01 Uhr     © 2024 Theatergemeinde BONN | Bonner Talweg 10 | 53113 Bonn