Fremd bin ich eingezogen – Musikalisches Jugendprojekt in der Oper - kultur 116 - Mai 2015

Fremd bin ich eingezogen - Schuberts Winterreise
Foto: Theater Bonn
Fremd bin ich eingezogen - Schuberts Winterreise
Foto: Theater Bonn

Heiße Kälte auf Schuberts Winterreise


Franz Schuberts 1827 erschienener Liederzyklus op. 89 ist echt harter Stoff. Der Wiener Komponist starb 1828 mit nur 31 Jahren. Seine 24 Winterreise-Lieder auf Gedichte von Wilhelm Müller strafen alle Klischees von harmloser Romantik Lügen. Sie erzählen von der existenziellen Fremdheit in der Welt, gescheiterter Liebe, gefrorenen Tränen, unstillbarer Sehnsucht und Suizidfantasien. Schuberts „Kranz schauriger Lieder“ ist in den letzten Jahren auf diversen Bühnen szenisch präsentiert worden. Das Werk mit seinen heftigen Stimmungsgegensätzen und der durchgängigen Figur des Wanderers wirkt wie eine dramatische Erzählung. Die dort ausgedrückten Gefühle sind zeitlos und bewegen gerade junge Menschen bis heute. Liebeskummer, Einsamkeit, Ausgrenzung und Zukunftsangst sind Grunderfahrungen des Pubertätsalters.
Darauf setzt der Regisseur und Ausstatter Jürgen R. Weber stärker als auf Verzweiflung und Todessehnsucht. Weber ist ein kreativer Grenzgänger zwischen allen theatralen Genres. In Bonn inszenierte er in der Spielzeit 2013/14 die fast vergessene Oper Der Traum ein Leben von Walter Braunfels. Jetzt hat er sich mit dem Jugendchor der Oper unter der Leitung von Ekaterina Klewitz auf die Spur von Schuberts Winterreise begeben. Bühnenerfahrung bringen fast alle der ungefähr 60 jungen Sänger schon mit, denn sie sind ja auch sonst im Einsatz von Hänsel und Gretel bis Turandot. Neu ist, dass sie jetzt in einer speziell für sie konzipierten Aufführung die ­große Bühne erobert haben.
Bleich geschminkt ziehen sie in ihren schwarz-pinken Trash-Kostümen mit schwarzen Hüten und rosa Blüten an den Schuhen durch die gespenstische Welt. Die Liedtitel werden in raffiniert wechselnden Schriftarten eingeblendet. Zu jedem Lied gibt es im Hintergrund Videos, die den Gehalt nicht einfach illustrieren, sondern die Symbolik bildkräftig übersetzen. Das geht mitunter buchstäblich unter die Haut. Jede Passage hat ihre eigene choreografische Dynamik. Zumeist agiert der Chor jedoch als große Masse, auch wenn sich einzelne in kleinen Spielszenen herauslösen, „Im Dorfe“ als heulende Hunde herumhecheln oder Turn- oder Tanz-Kunststückchen zum Besten geben. Eine heutige Love-Story im Chatroom und Mobbing-Geschichten verdeutlichen die Gegenwärtigkeit der Themen des Liederzyklus, zumal der in den Zuschauerraum gebaute breite Steg die Probleme nah ans Publikum rückt. Insgesamt ist die solistische und spielerische Entfaltung der jungen Sänger, anders als in den vielen früheren Produktionen an kleineren Spielstätten, diesmal jedoch zurückgestellt zugunsten der Musik, neu arrangiert von Ekaterina Klewitz, in deren Händen auch die musikalische Leitung der Produktion liegt.
Zum Klavier (Adam Szmidt) gesellen sich noch Violoncello (Johanna Zur), Harfe (Helen Schütz) – beide auf hohen Podesten mitten im Geschehen platziert – und vor allem das Saxophon von Tobias Rüger. Er begleitet als Antreiber oder Verfolger den Wanderer, den der lyrische Tenor Christian Georg im selben Outfit wie seine jungen Partner stimmlich und spielerisch eindrucksvoll verkörpert. Das Blasinstrument, erst kurz nach Schuberts Tod erfunden, vertreibt mit seinem warmen jazzigen Klang die Todeskälte aus der Melancholie. Wirklich Leben in die tristen Nachtgedanken bringt indes der Chor, dessen helle Stimmen im Konzert mit dem professionellen Sänger viele Liedpassagen übernehmen. Ihre differenzierte (zudem perfekt textverständliche) Gestaltung der Vokalstücke ist ein Ereignis für sich. Dem erfrorenen Leiermann am Schluss setzen sie die hoffnungsvolle Frische ihres Gesangs entgegen. Nachdenklich, aber ermutigt für neue Experimente mit dem Leben und der Kunst. E.E.-K.

Spieldauer ca. 75 Minuten,
keine Pause
Die letzte Aufführung
war am 26.04.15 .

Donnerstag, 10.09.2015

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