Jeder veröffentlicht sich selbst – Mathias Tretter geht auf Selfie-Jagd (kultur 109, Oktober 2014)

von Thomas Kölsch

von Thomas Kölsch

Der digitale Exhibitionismus manifestiert sich seit einiger Zeit verstärkt durch so genannte Selfies: Fotos der eigenen Person in mehr oder minder peinlichen Posen mit mehr oder minder starker Aussage. Klar, dass die deutsche Kabarettszene an diesem Phänomen auf Dauer nicht vorbei kommt. Jetzt nimmt sich Mathias Tretter, nach eigenen Angaben „der unbekannteste Internetkritiker seit Johannes Gensfleisch“, nach seiner letzten Abhandlung über Facebook und Twitter in seinem neuen und nach besagtem Objekt benannten Programm der Thematik an – analytisch, tiefsinnig und scharfzüngig. „Es gibt eine zunehmende Selbstbezogenheit in unserer Gesellschaft“, konstatiert der 42-jährige Kabarettist und Literaturkritiker im Interview. „Jeder veröffentlicht sich.“ Millionen Pixelrufe nach Aufmerksamkeit und Bestätigung in einer Welt, in der Tretter „ADHS als Schlüsselfähigkeit“ feststellt. Schneller, dafür nur oberflächlicher Informationskonsum und Hyperaktivität – passt.

Tretter selbst verweigert sich ganz bewusst diesem Wahn. „Ich bin ein Sonderling, weil ich abgesehen von meiner Homepage nirgendwo im Netz zu finden bin. Meine Agentur betreut zwar eine Facebook-Seite von mir, aber da schaue ich vielleicht alle sieben Monate einmal drauf und wende mich ganz schnell wieder ab.“ Manche Informationen muss man einfach nicht teilen. Schon gar nicht ungefiltert. Hinzu kommt, dass sich der Kabarettist, wäre er im Bereich Social Media selbst aktiv, mit Sicherheit ein ums andere Mal aufregen würde. Und das, so sagt er, ist tödlich für sein Programm. „Was mich auf die Palme bringt, gehört nicht auf die Bühne. Man braucht Abstand zu dem, was man tut. Wenn ich bei einem Thema am liebsten schreien würde, dann warte ich lieber ein paar Tage, bis ich mich etwas beruhigt habe, und versuche es dann.“ Denn während andere Künstler den Humor als Ventil für ihre Wut nutzen, nimmt Tretter lieber eine Abwehrhaltung ein. Der Witz als Schild für die Seele.

Ist vielleicht besser so: Auf die Frage, worüber sich Mathias Tretter aufregen könnte, kontert er mit einem lakonischen „worüber nicht?“. „Man muss doch nur vor die Tür gu­cken“, sagt er. Doch Tretter kann sich beherrschen, lässt sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Der Humor ist ja da. Zumal es ihm ebenso wenig um die eigene Explosion im Dienste des Publikums als um Belehrung, Mahnung und Deutung geht. „Ich will keine Wahrheiten verbreiten, sondern Mehrdeutigkeiten. Anders geht es doch gar nicht. Nehmen Sie nur das Beispiel Ukraine: Ich weiß doch überhaupt nicht, wie ich den Konflikt bewerten soll, ich bin ja nicht mittendrin.“ Stattdessen erhalten die Bürger vielfach gefilterte und gebrochene Informationen aus dritter, vierter oder gar fünfter Hand. Die Wahrheit? Gibt es in diesem Fall nicht.

Tretter will kein Erklärbär sein wie etwa Volker Pispers – „ich schätze ihn sehr, aber das ist nicht mein Weg, nicht meine Ästhetik“, kommentiert der gebürtige Würzburger den Vergleich. „Ich bin da vermutlich durch mein Studium der Anglistik und Germanistik geprägt. Ich bevorzuge verschiedene Lesarten, keine Hermeneutik.“ Also: Interpretieren und analysieren ja, indoktrinieren nein. Ob es nun um Kriege oder um Literatur geht. Oder um Selfies.

Donnerstag, 13.11.2014

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