Igor Fjodorowitsch Strawinsky (1882 - 1971)

kultur 107 - Juni 2014

Der russische Komponist, Pianist und Dirigent wurde in Oranienbaum bei St. Petersburg geboren. Strawinsky war der dritte von vier Söhnen Fjodor Ignatjewitsch Strawinskys, Erster Bassist an der zaristischen Hofoper in St. Petersburg, und Anna Kirillowna Cholodowskijs. Einer Familientradition folgend, studierte Igor an der Universität zu St. Petersburg Jura. Seine musikalische Ausbildung begann er mit 9 Jahren mit Klavierunterricht bis zur Konzertreife bei Mademoiselle Kaschperowa, einer Schülerin Anton Rubinsteins. Strawinskys spätere konturierte Klangschrift geht auf das Ideal des pedallosen Klavierspiels seiner Lehrerin zurück. Neben dem Klavierunterricht erhielt er Unterweisung in Harmonielehre und Kontrapunkt. Nach dem Tod seines Vaters (1902) erteilte ihm der Komponist Rimskij-Korsakow, der mit der Familie befreundet war, Privatunterricht in Werkanalyse und Instrumentation. Seit seinem 13. Lebensjahr schrieb Strawinsky Klavierarrangements von Opern- und Ballettstücken.
Nach Abschluss seines Studiums im Jahre 1905 verlobte er sich mit seiner Kusine Jekaterina Gabrielowna Nossjenko, die er im Jahr darauf heiratete. Mit ihr hatte er vier Kinder. Ustilug in der Westukraine und seit 1910 Clarens am Genfersee waren bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges wechseln­de Wohnsitze der jungen Familie.
Durch Rimskij-Korsakow gelangten in den St. Petersburger Abendzirkeln für zeitgenössische Musik Strawinskys Erstlingswerke zur Uraufführung: Die Klaviersonate fis-moll, die Gorodetzkij-Lieder und die Pastorale. Das Scherzo fantastique, welches der Komponist dem Dirigenten Siloti widmete, brachte dieser 1909 zur Uraufführung. Bei dieser Gelegenheit lernte Strawinsky den Impresario Sergej Diaghilew kennen, seit 1907 Manager der Saison Russes in Paris. Mit seinen Balletts Russes brachte Diaghilew in Paris Strawinskys frühe Ballettwerke zur Uraufführung, auf die sich sein Weltruhm als Komponist gründete: L‘Oiseau de feu (Feuervogel), Petruschka und Le Sacre du printemps (Das Frühlingsopfer).
Komponisten wie Debussy, Ravel, Satie und Puccini zählten zu Strawinskys frühem Freundeskreis in Paris, ebenso wie u.a. die Schriftsteller Cocteau und Proust und die Maler Matisse, Chagall, Modigliani und Picasso. Interpreten von Rang arbeiteten mit Strawinsky zusammen, unter ihnen die Tänzer Nijinskij und Fokin sowie die Dirigenten Sir Beecham und Ansermet.
Mit Ausbruch des 1. Weltkrieges bot der Schweizer Ansermet der Familie Strawinsky sein Haus zur freien Unterkunft an. Im selben Jahr trat der Komponist erstmals als Dirigent auf. In Strawinskys Schweizer Exil 1914 – 1920 erwiesen sich zahlreiche Mäzene als hilfreich, unter ihnen die Prinzessin Edmonde de Polignac, geb. Singer (Nähmaschinen) und Gabrielle Chanel (Couture). Während dieser Zeit entstand, neben Klavier- und Quartettstücken, ein neuartiger Typ kammerkonzertanten Musiktheaters: Die Werke Renard, Les Noces (Die Bauernhochzeit) und L’Histoire du Soldat (Die Geschichte vom Soldaten).
1920 – 1939 übersiedelte die Familie nach Frankreich mit wechselnden Wohnsitzen, zuletzt in Paris. Dort hatte Strawinsky seit 1922 ein Studio der Klavierfirma Pleyel inne. Mit Pleyel schloss der Komponist einen Vertrag zur Einspielung seiner Hauptwerke in Klavierfassung auf Pianola-Rollen (s.u.).
Neben einigen geistlichen Werken wie der Psalmensinfonie (1930) und Ave Maria (1934), bildeten Kammer- und Klavierwerke einen neuen Schwerpunkt in Strawinskys Schaffen. Seit 1925 dehnte Strawinsky seine Konzerttourneen auch auf Amerika aus. Mit Columbia (New York) schloss er einen Schallplattenvertrag zur Einspielung seiner Klavierwerke, den er 1953 erneuerte und auf sein Gesamtwerk erweiterte, mit Strawinsky als Pianist bzw. Dirigent. Im Jahr 1925 lernte der Komponist auch den Choreographen George Balanchine kennen. Mit ihm zusammen schrieb Strawinsky mit seinem weiteren Musik- und Ballettschaffen, wie z.B. Apollon Musagète, euro-amerikanische Tanzgeschichte. 1934 erhielt Strawinsky die französische Staatsbürgerschaft. Seinen Kompositionen wurde im Lehrplan der Pariser Ecole Normale de Musique Modellcharakter zugeschrieben. 1935/36 erschienen seine Chroniques de ma vie (Lebenschronik).
Nach dem Tod seiner Frau im März 1939 heiratete Strawinsky 1940 Vera de Bosset, die er bereits seit 1922 kannte. Kurz nach Ausbruch des 2. Weltkriegs war Strawinsky nach Amerika übergesiedelt. Während des Krieges wurde sein Haus am North Wetherly Drive in Beverly Hills zu einem Treffpunkt europäischer Künstleremigranten, wie Milhaud, Balanchine, Huxley und Werfel. Für das Studienjahr 1939/40 hielt Strawinsky an der Harvard University in Cambridge (Mass., USA) eine Vorlesungsreihe, die er Poétique Musicale (Musikalische Poetik) nannte. Ende 1945 wurde er Bürger der USA. Mit dem Verlag Boosey and Hawkes schloss er einen Exklusivvertrag für alle künftigen Werke und einen Leibrentevertrag auf Lebenszeit.
Strawinskys Auseinandersetzung mit der Kontrapunktik der Niederländischen Schule und des italienischen und deutschen Frühbarock hatte eine Reihe „neobarocker“ bzw. „neoklassizistischer“ Werke zur Folge, unter ihnen auch das für Balanchine geschaffene Ballett Orpheus (1947).
In der letzten Phase seines Schaffens beschäftigte sich der Komponist schließlich mit dodekaphonischen und serialistischen Prinzipien der Neuen Wiener Schule. Daraus gingen Werke wie das Ballett Agon oder Canticum Sacrum hervor.
Seit 1951 trat Strawinsky wieder regelmäßig als Dirigent in Europa auf und unternahm Tourneen nach Japan, Mexiko und Südamerika, Skandinavien, Australien und Neuseeland. Ab seinem 65. Lebensjahr häuften sich die Ehrungen für Strawinsky; unter anderen wurde er durch Papst­ ­Johannes ­XXIII. zum Großritter des Ordens vom Heiligen Sylvester ernannt.
Von 1967 an gab Strawinsky der New Yorker Review of Books zeit- und musikkritische Interviews. Im selben Jahr gab er sein letztes öffentliches Konzert und leitete seine letzte Schallplatteneinspielung. Zwei Jahre nach seinem zweiten Schlaganfall starb der Komponist 89-jährig. Wie testamentarisch verfügt, fand seine Beisetzung auf dem russischen Teil von San Michele, des Inselfriedhofs von Venedig, statt. E.H.


Hörtipps:
- L’Histoire du Soldat, Carole Bouquet, Gerard Depardieu, Guillaume Depardieu, Shlomo Mintz, Naïve.
- Stravinsky conducts, Le Sacre du Printemps, Columbia Symphony Orchestra, Columbia Records.

Dienstag, 04.11.2014

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