Realismus - kultur 40 - Oktober 2007

Traumhafte Realitätsverwirrung - Realismus von Anthony Neilson als deutsche Erstaufführung in der Halle Beuel

Das Edinburgh International Festival schickte kurz vor der Uraufführung von Anthony Neilsons Realism 2006 am Royal Lyceum Theatre eine warnende Presse-Mail, die man wirklich im Original zitieren sollte: „You may also wish to note that the play contains strong ­language and scenes of a sexual nature.“ Aber nicht deshalb wurde das Stück, das der renommierte und längst auch auf deutschen Bühnen präsente schottische Autor vor einem Jahr in Edinburgh mit einem hinreißend intelligenten Ensemble erarbeitete, ein Riesenerfolg. Es ist einfach ein irrwitzig komisches Drama über ganz normale Typen, deren Träume seit Freud bekanntlich nicht immer völlig unanständig sind. Anthonys realer Vater, der Schauspieler Sandy Neilson, spielte den fiktiven Vater und der Schauspieler Stuart MacQuarrie den vor der Glotze verblödeten fiktiven Stuart MacQuarrie, dem an einem stink­normalen Samstag das erträumte Leben in einem absurden Drama davonläuft. Womit die grotesken Realitätsverschiebungen des britischen Realismus, der hier nur noch marginal was mit der inzwischen leicht angestaubten „In-Yer-Face“-Brutal-Dramatik der 90er Jahre zu tun hat, einigermaßen klar sein dürften.
Wenn nicht, sollte man in der Halle Beuel vorbeischauen. Die Regisseurin Patricia Benecke, die ganz handfest was von britischer und deutscher Dramatik versteht und das tollkühne Stück zusammen mit der Bonner Schauspiel-Chefdramaturgin Stefanie Gräve für die deutschsprachige Erstaufführung übersetzt hat, setzt den verrückten Couch-Potato-Träumen noch eins drauf.
Andreas Maier spielt den sanft unterbelichteten Bilderbuch-Looser Stuart in Unterhosen einfach herrlich - inklusive aller akkumulierten Verluste des Lebens und des flotten Dreiers auf dem Klo, wo aus der Wasserspülung plötzlich eine ernüchternde Dusche sprüht. Die Schwerkraft wird ja sowieso notorisch überbewertet, weshalb in Gesine Kuhns wunderbar stilsicherem, alle Designstars ironisch herbeizitierendem Bühnenbild Stuarts Sandkastenfreund Mullet (Helge Tramsen mit infantilen Kniestrümpfen und britischen Elite-Uni-Gemeinheiten) über akrobatische seitliche Stuhlarabesken seinem im bürgerlichen Leben versumpften Kumpel mal die Leviten lesen kann. Obwohl der doch gerade in einer TV-Diskussion argumentativ brillant im Bühnennebel verdampfte. Für Stuarts Höhenflüge haben seine frühere Geliebte Laura (Nina V. ­Vodop'yanova) und seine derzeitige Lebensabschnittsgefährtin Angie (Johanna Marx) böse Landungsideen. Mama (Tatjana Pasztor) mahnt aus der Waschmaschine zur Ordnung und hat eine Menge mütterlicher Albtraum-Hilfestellungen drauf, Papa (fantastisch: Wolfgang Rüter) scheint ein Fall für die Call-Center-Klapsmühle zu sein. Und Freund Paul (Sebastian von Koch) ist entweder der mürrische schwarze Kater Galloway (Kostüme: Tanja Gierich) oder der bierselige Mörder, der Stuart auf dem Sofa um die Ecke bringt. Was dieser wiederum für eine hinterhältige Beobachtung seiner tränenseligen Beerdigung nutzt. Oder war er schon vorher tot? Oder ist was faul bei diesem banalen Hamlet zwischen Teetasse und Spüle? Tut eigentlich nichts zur Sache, solange genug Katzenfutter im Kühlschrank ist. Und die verdammt reale Wohnküchenidylle nimmer endet…
Riesenbeifall also für ein Schauspielensemble, das den absurden Spaß, der einen Ausflug in die Halle Beuel entschieden wert ist, mit blendender Spielfreude auf die Bühne gebracht hat. E.E.-K.

Aufführungsdauer: ca. 80 Minuten ohne Pause
Im Programm: bis 20.10.07

Dienstag, 18.12.2007

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