Winter im Morgengrauen - kultur 56 - April 2009

Bericht aus der Kernzone des Entsetzens - Winter im Morgengrauen - Uraufführung von Jens-Martin Eriksen im Theater im Ballsaal

„Ich will von dem berichten, was sich während des Monats ereignete, in dem ich mich in Alabama aufgehalten habe.“ Es ist keine einzigartige Geschichte, der namenlose Ich-Erzähler ist nichts Besonderes, seine Kameraden Gamma und Delta könnten auch Ludo oder Möbius heißen, so wie die Schauplätze irgendwo in Europa auf der Landkarte des Schreckens getarnt sind als Columbus, Arizona, Sambesi, Perm oder Kambodscha. Alabama nannten sie die Turnhalle einer Dorfschule, das Hauptquartier der jungen Männer, die zufällig zum Dienst bei der Miliz in einem Land eingezogen wurden, in dem Bürgerkrieg herrschte. Der dänische Autor Jens-Martin Eriksen­ beschreibt in seinem Roman Winter im Morgengrauen ihre Geschichte scheinbar völlig emotionslos, lakonisch präzise, unspektakulär.
Der Regisseur Frank Heuel nimmt diesen Ton exakt auf in seiner Dramatisierung des Textes, einer Koproduktion des Bonner fringe-ensembles und der Münsteraner Gruppe phoenix5. Vor einer schlichten Bretterwand (Bühne: Eduardo Seru) übernehmen drei Schauspieler verschiedenen Alters die Rolle des anonymen Berichterstatters. Der junge Manuel Klein, der ältere Harald Redmer und in der Mitte David Fischer spielen mit sparsamer Gestik und ungeheurer Intensität den Soldaten, der völlig naiv dem Marschbefehl gefolgt ist. Die Aufgabe erscheint einfach: In den Dörfern die Männer sammeln und begleiten in das Wäldchen, das sie Kambodscha nennen. Die ‚Begleiteten’ sollen korrekt behandelt werden, nicht unnötig leiden, der Genickschuss muss schnell und sauber erfolgen. Es geht um eine effiziente Logis­tik, sorgfältige Abwicklung – möglichst ruhig und unauffällig. Keine Gewaltexzesse, keine direkten Kontakte mit den Menschen. Wer einen Tag Auszeit braucht, bekommt ihn; niemand wird brutal zum Töten gezwungen; es ist ein verantwortungsvoller Job, kein Schlachtfest.
Und sie tun es, diese total normalen Männer, die zufällig Teil einer Tötungsmaschinerie geworden sind. Doch zwischen Schweiß, Kaffee, Schnaps und Zigaretten steigt die Angst hoch vor dem, was sie sein werden, wenn dies hier vorbei ist. Werden sie weiterleben können mit dem letzten erstaunten Blick ihrer Opfer, mit dem Entsetzen vor ihrer merkwürdig unschuldigen Grausamkeit? Beim Genuss der im Nachbargarten gereiften Äpfel entlädt sich plötzlich eine wahnsinnige Aggressivität, beim Besäufnis in der Scheune betäuben sie mit wilden blutigen Spielen den aufgestauten Schmerz. Und eines Tages schaut der Erzähler in das Gesicht von Jann, mit dem er als Kind gespielt hat. „Er rief nicht nach mir … Er hatte nur diesen Blick … Als wenn er… ausdrücken wollte, dass er enttäuscht sei.“ Jemand anders übernimmt persönlich den ‚Abschluss’ von Jann, der Erzähler darf aufhören und an einem Wintertag im Morgengrauen zurück fahren in ein Leben, das nie wieder so sein wird wie zuvor. Das Grauen ist aus seinen Erinnerungen nicht mehr zu löschen und geht in dieser beeindruckenden Aufführung gerade wegen ihrer kühlen Distanz und strengen Formalisierung sehr tief unter die Haut. E.E.-K.

Aufführungsdauer: ca. 1½ Std., keine Pause
Zur Zeit leider nicht mehr im Spielplan.

Samstag, 02.01.2010

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