Merlin oder Das wüste Land - kultur 68 - Juli 2010

Verteufelt poetischer Ritt durch die Weltgeschichte: Merlin oder Das wüste Land in den Kammerspielen

Es ist das gewaltigste der Dramen, die Tankred Dorst zusammen mit Ursula Ehler verfasst hat. Merlin oder Das wüste Land, uraufgeführt 1981 erzählt in knapp 100 Szenen von nichts Geringerem als vom Lauf der Welt. Der Regisseur David Mouchtar-Samorai hat das vielschichtige Werk, das in Gänze gespielt an die zehn Stunden dauern würde, auf dreieinhalb reduziert. Und die vergehen wie im Flug angesichts der Fülle von Einfällen in seiner stets auf Hochspannung gehaltenen Inszenierung. Dabei wechseln die Darsteller der zahlreichen immer wieder in die Erzählung und von der Reflexion des Geschehens ins direkte Handeln. Ein paar in den Boden gerammte Lanzen auf der mit buntem Herbstlaub bedeckten Bühne von Heinz Hauser markieren den Schauplatz: ein leerer Raum in einem fantastischen Mittelalter. Fast alle sagenhaften Figuren der großen mittelalterlichen Epen aus dem Artus-Stoff tauchen auf. Wer gerade nicht mitspielt, sitzt am Rand der Bühne vor den Garderobenstangen. Die Kostüme (Urte Eicker) werden mit ebenso schnellem Tempo gewechselt wie die Rollen. Alles bleibt deutlich immer Theater, nicht realistisch-psychologisch, sondern sinnlich poetisch. Mal komödiantisch mit skurrilen Revue-Elementen, mal leise mit emotional berührenden Momenten. Es ist ein großes Märchen vom Scheitern der Utopien, berichtet im Ton der fahrenden Sänger mit dramatischen Abschweifungen und bewegten Bildern.
Der Zauberer Merlin kommt als Sohn des Teufels zur Welt. Schon seine Geburt ist ein echter Theatercoup. Als nacktes Riesenbaby kriecht Merlin (großartig: Bernd Braun, der ­­u. a. auch als amerikanischer Schriftsteller Mark Twain durch die Szenerie geistert) aus dem von den anderen Schauspielern verkörperten Mutterschoß, hat gleich eine Zeitung in der Hand und kennt sich recht gut aus in der Weltgeschichte. Der bocksfüßige Papa Teufel (Wolfgang Rüter, glänzend auch in den Rollen verschiedener Ritter und als Papst) jubelt über das prächtige Produkt. Schließlich soll Merlin die Menschheit befreien. Vom Guten natürlich, damit sie endlich zur Hölle wird. Doch Merlin rebelliert und gründet mit König Artus die Tafelrunde. Deren Mitglieder sollen die ritterlichen Ideale bewahren und eine friedliche Weltordnung errichten. In der dampfenden Sauna werden die Verhandlungen besiegelt. Doch das Chaos ist stärker.
Artus (sehr menschlich schwankend zwischen der aufgebürdeten Verantwortung und der Sorge um seine Familie: Guido Gallmann) zieht das Schwert Excalibor aus dem Stein und heiratet die schöne Ginevra (Verena Güntner) – weniger aus Zuneigung zu ihr als zu dem Tisch, den sie als Mitgift mitbringt. Die einsame Ginevra verliebt sich in den strahlenden Helden Lancelot (unwiderstehlich: Thomas Ziesch). Sie bewahrt edle Haltung auch zwischen den Bettlaken, leidet und verblüht mit königlicher Größe. Parzival (als naives, rücksichtsloses Kind: Konstantin Lindhorst) kommt als tumber Tor in die Runde, ermordet ohne jedes Schuldbewusstsein den Ritter Ither, um sich seiner Rüstung zu bemächtigen, und zieht auf die Suche nach dem heiligen Gral. Maria Munkert verkörpert Parzivals verzweifelte Mutter Herzeloide und die verführerische Jeschute und hat einen wunderbaren Auftritt als jugendlicher Sir Beauface, der in Sekunden sein ganzes Leben bis zum Tod durchmisst. Sir Orilus (Raphael Rubino) singt mit Federboa und Kettenhemd ein englisches Lied vom irdischen Paradies. Während die Ritter Schlachten schlagen, träumt Artus vom Löwen, der Gras frisst.
Herrlich komisch ist die Eifersuchtsszene zwischen Ginevra und Elaine, die von Lancelot ein Baby bekommen hat und es stolz im Kinderwagen präsentiert. Wenn Merlin sich mit der Nymphe Viviane vergnügt, sprießen Blumen aus dem Boden, und vom Himmel regnet es Seifenblasen. Arne Lenk ist der ungeratene Sohn Mordred, der am Ende seinen Vater Artus zu Fall bringt und die Welt in Gewalt und Anarchie zurückstößt. Den Gral haben die Ritter nicht gefunden und den Planeten Erde nicht gerettet. Am Ende steht die lange Schlacht, in der die meisten Krieger umkommen. Artus erschlägt Mordred und wird selbst tödlich verwundet. Das Erwachen aus dem Traum von der Zivilisierbarkeit der Menschen ist bitter. Merlin wandert melancholisch durch ein wüstes Land.
Alle elf Darsteller – neben den bereits Genannten noch Nico Link und Anas Ouriaghli – schlüpfen mit wahnwitzigem Tempo in die kaum noch zu überschauende Menge der Figuren. Zusammengehalten werden die kunstvoll verwobenen Handlungsfäden und Bilder durch einen wunderbar klaren Spielrhythmus. Mouchtar-Samorais Personenführung ist ein Meisterwerk an Präzision. Vor allem jedoch ein dramatisch poetisches Zauberwerk, das einen gefangen nimmt. Darf man nicht verpassen! Die Inszenierung wird selbstverständlich in die nächste Spielzeit übernommen. E.E.-K.

Aufführungsdauer: ca. 3½ Std., eine Pause
Im Programm bis: 25.06.10
Nächste Vorstellungen: 24.06./1.07./4.07.
Wiederaufnahme am 28.09.10

Dienstag, 15.02.2011

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