Flüchtlingsgespräche - kultur 85 - April 2012

Flüchtlingsgespräche von Bertolt Brecht in der Pathologie – Die Dialektik von Ordnung und nützlicher Schlamperei

Brechts Gedanken über die Dauer des Exils aus den Svendborger Gedichten hat Christoph Pfeiffer seiner Inszenierung im Theater die Pathologie vorangestellt: Keinen Nagel in die Wand schlagen und keinen Baum pflanzen – in der Hoffnung auf baldige Heimkehr. Doch der Nagel sitzt fest und der kleine Baum wächst, während Deutschland in weite Ferne rückt. „Der Pass ist der edels­te Teil von einem Menschen“, lautet einer der geflügelten Sätze der Flüchtlingsgespräche. In gewisser Weise ist der Mensch freilich notwendig für den Pass und die saubere staatliche Ordnung. Wobei Schlamperei der Staatsorgane durchaus lebensrettend sein kann.
Im Bahnhofsrestaurant von Helsinki saß Bertolt Brecht häufig bei Bier und Zigarren und wartete auf das Visum für die USA, das er im Mai 1941 schließlich erhielt. 1940/41 schrieb er in Finnland seine Flüchtlingsgespräche, einen bitter komischen Dialog zwischen den Emigranten Ziffel und Kalle. In der Pathologie ist man sehr nah dran am wohligen Kneipendunst und kalten Angstschweiß der von der europäischen Kriegsfurie aus dem Dritten Reich Vertriebenen. Enne Schütz spielt den körperlich robusten, jüdischen Physiker Ziffel, der seinen akademischen Job verlor. Guido Grollmann ist der äußerlich eher schmächtige, aber höchst pfiffige Arbeiter Kalle mit Brecht-Schiebermütze, perfekter Brecht-Syntax und heroischem Bildungsdrang. Im Bahnhofsrestaurant von Helsinki philosophieren die beiden über die Fragwürdigkeit des Kaffees und des Bieres, den niedrigen Materialismus, das Überhandnehmen bedeutender Menschen, klassische Bildungsgüter, das traurige Schicksal großer Ideen und den blutigen Ernst der Lage. Gelegentlich auch vom „Wieheißtderdochgleich“, dessen Namen man an einem öffentlichen Ort in der Fremde besser nicht nennt. Sie schauen dann kurz besorgt in die Runde, ob nicht doch ein Nazi-Spitzel mithört.
Dabei wechseln der Wissenschaftler und der Proletarier regelmäßig die Plätze am Tisch vor den Landkarten an der Wand, was mehr als nur szenische Bewegung schafft in ihrer ironisch pointierten Konversation über die widersprüchlichen Positionen angesichts des Weltzustandes. Sie wechseln tatsächlich mit Galgenhumor und galligem Witz die Seiten in ihrem dialektisch vertrackten Spiel.
Ein verdammt gescheites Lehrstück mit satirischem Mehrwert. E.E.-K.

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Spieldauer ca. 75 Minuten, keine Pause.
Die nächsten Termine:
13.04. // 14.04. // 26.04.12

Donnerstag, 11.10.2012

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