Harper Regan - kultur 90 - November 2012

Harper Regan von Simon Stephens in den Kammerspielen: Stationen eines Heimwegs

Sarah Regan weiß alles über Gletscher und Eiszeiten. Was sie für die Geographieprüfung gelernt hat, wird auf der Bühne von Gesine Kuhn Wirklichkeit: Ein merkwürdig kalter Raum mit kleinen metallisch schimmernden Kühlschränken auf wie Eisschollen gegeneinander verschobenen Spielflächen. Harper Regans Ehe ist auf dem Gefrierpunkt, ihr Vater schon zur Beerdigung abtransportiert ins Kühlhaus. „Tonight’s gonna be a good night“, singt Harper leise trotzig ins Mikro, während Krankenschwester Justine ihr vom vermutlich schmerzlosen Wegdämmern des Vaters berichtet, zu dessen Sterbebett die Tochter zu spät geeilt ist.
Die in London lebende Regisseurin Patricia Benecke inszeniert das kleine Stationendrama Harper Regan des britischen Erfolgsautors Simon Stephens in den Kammerspielen sehr groß und füllt die Lücken geschickt mit szenischen Einfällen. Das funktioniert im Dauergeschiebe der Bühnenpodeste so gut, weil die großartige Tatjana Pasztor in der Titelrolle völlig unbeirrbar auf die Spurensuche nach den Irrtümern ihres Lebens geht. Eine Frau mittleren Alters, verheiratet mit einem arbeitslosen Architekten, Mutter einer siebzehnjährigen Tochter. Aufgewachsen in Stock­port bei Manchester, seit kurzem wohnhaft in Uxbridge, einem Londoner Vorort in der Nähe des Flughafens Heathrow. Leidlich bezahlter Job, der die bescheidene kleinbürgerliche Existenz der Familie einigermaßen absichert. Jung genug, um sich in einem raffinierten roten T-Shirt (Kostüme: Stephanie Geiger) attraktiv und in einer schicken Lederjacke nicht peinlich zu fühlen. Alt genug, um zu wissen, dass Tochter Sarah keinen mütterlichen Schutzengel mehr braucht. Der schlaksige Tobias, den sie auf dem Heimweg von der Arbeit anbaggert, könnte ihr Sohn sein. Julia Goldberg und Grégoire Gros, junge Neuzugänge im Bonner Schauspiel-En­semble, verkörpern in ihren ersten großen Kammerspiel-Rollen eindrucksvoll die nachdenkliche Generation Cool.
Ralf Drexler ist Harpers Gatte Seth, der treu und immer leicht gebeugt mit dem Unglück umgeht. Pädophile Fotos auf seinem Computer haben seine Familie in Verruf gebracht. Als potenzieller Sexualstraftäter abgestempelt, ist er ein Aufstiegshindernis und gesellschaftlich am Ende. Harpers geschiedene Eltern haben sie in ihrer schwierigen Situation im Stich gelassen. Inniger Hass verbindet sie mit ihrer Mutter Alison, der Tanja von Oertzen in lila Filzpantoffeln eine eisige Härte gibt.
Zwei Tage lang ist Harper Regan unterwegs zu ihren Wurzeln, um den Aufstand gegen die Vergänglichkeit des Lebens zu proben. Als Mann für alle Gelegenheiten fungiert dabei Wolfgang Rüter. Er ist Harpers verschrobener Chef, der seine beste Kraft schnöde feuert. Er ist der aufdringliche Journalist, dem Harper in einer Kneipe die alkoholbefeuerten antisemitischen Parolen mit einem Weinglas in den Hals zurückrammt, bevor sie triumphierend unter Mitnahme seiner Lederjacke den Schauplatz ihrer Gewalttat verlässt und in einem teuren Hotel Sex mit einem wildfremden Typen hat, den sie im Internet aufgabelte. Rüter spielt den sympathischen Call-Man ebenso gut wie den bodenständigen zweiten Ehemann von Harpers Mutter.
Es gibt viele kleine tragikomische Glanzlichter auf der dramatisch unspektakulären Lebensreise, die brav zu Ende geht beim Familienfrühstück im Garten. Alles ist heil geblieben, das Vertrauen wiederhergestellt. Es bleiben nur diese feinen Risse und relativ harmlosen Schürfwunden, die zum ganz normalen Alltag gehören. Simon Stephens’ Erzählduktus ist leiser als die etwas vorlaute Inszenierung. Trotzdem mag man die vielschichtig gezeichneten Figuren, die alle etwas berichten über heutige Befindlichkeiten. Mit einem lakonischen Humor, der das Ganze über die vordergründige Banalität hinwegträgt. Außerdem ist Tatjana Pasztor als Harper Regan einfach unwiderstehlich. Der Premierenbeifall für ihre Leistung war noch größer als der für die Regie. E.E.-K.
Spieldauer ca. 1 ¾ Stunden, keine Pause

Dienstag, 12.02.2013

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