Brief einer Unbekannten - kultur 86 - Juni 2012

"Brief einer Unbekannten" von Stefan Zweig im Theater Die Pathologie: Unbedingte Sehnsucht

Der berühmte Wiener Romanschriftsteller R. kann sich bestenfalls bruchstückhaft erinnern an die Frau, deren Brief ein kleines literarisches Meisterwerk ist, und die zum Zeitpunkt seiner Lektüre möglicherweise nicht mehr lebt. „Dir, der Du mich nie gekannt“, ist das lange Schreiben gewidmet, das er an seinem 41.Geburtstag auf seinem Schreibtisch findet. „Mein Kind ist gestorben“, berichtet die anonyme Verfasserin. Es war auch das Kind des Mannes, den sie so abgöttisch liebte. Die Novelle Brief einer Unbekannten von Stefan Zweig (1881 – 1942) erschien 1922. Der Autor war also im gleichen Alter wie der Empfänger des fiktiven Briefes. Zweig, dieser feinsinnige Erforscher der weiblichen Seele, spielt elegant mit den Perspektiven der Wahrnehmung. Ist die unbekannte Briefschreiberin eine Phantasie des fiktiven Dichters? Ein Geschöpf seiner Eitelkeit oder seines schlechten Gewissens?
In der neuen Inszenierung von Maren Pfeiffer, der künstlerischen Leiterin des Theaters Die Pathologie, schaut die Frau einen Moment lang fast schelmisch dem unsichtbaren Leser zu, bevor sie die Kerzen am Totenbett ihres Sohnes anzündet und ihren Monolog an das abwesende „Du“ beginnt. Die Schauspielerin Anne Scherliess, Leiterin der freien Theatergruppe „theater@home“ bleibt dabei eine Figur auf der Textspur. Die Handschrift auf den weißen Laken, die den Bühnenboden bedecken, ist die Welt, in der ihr „Ich“ ins Bodenlose stürzt. Im türkisfarbenen kurzen Kleidchen mit dunkel gelocktem Bubikopf ist sie das dreizehnjährige Mädchen, das sich schwärmerisch in den jungen Künstler verliebt. Ihr ganzes Leben geht in seinem auf, von dem sie dennoch gänzlich ausgeschlossen bleibt. Sie beobachtet ihn durch den Türspion, entwirft sich Phantombilder des Angebeteten und verbringt als Achtzehnjährige endlich drei Nächte mit dem Objekt ihrer Sehnsucht. Für ihn ein beiläufiges kleines Abenteuer, für sie die Erfüllung aller Träume. Die Frucht der kurzen Beziehung ist ihr ganzes Glück, trotz der furchtbaren Demütigungen in der Gebärklinik. Durch den Sohn besitzt sie den fernen Vater, mit dem sie Jahre später noch einmal eine Nacht lang das Bett teilen wird. Käuflich ist sie geworden, um ihrem Kind eine gute Zukunft zu ermöglichen. Eine attraktive junge Frau, die in den besten Wiener Kreisen verkehrt, bewundert und erkannt von vielen. Nur nicht von dem einen, dem sie zu jedem Geburtstag vier weiße Rosen schickte, wie er sie einst ihr zerstreut in die Hand drückte.
Zu Pfeilen werden die Rosen, wenn sie verzweifelt einsieht, dass er sie bei keiner Begegnung wiedererkannt hat. Sie hatte nie ein Gesicht für den Mann, dem sie ihre ganze Existenz widmete. Ein schwerer Birkenstamm symbolisiert die Last ihrer unerschütterlichen Liebe, mit einem Birkenzweig wird sie taumelnd Walzer tanzen, bevor das Fieber ihr Kind hinwegrafft. Scherliess spielt bezaubernd mit den leisen, intimen Tönen der Erzählung und lässt hoch konzentriert und sehr berührend die emotionalen Höhen und Tiefen dieser tragischen Nicht-Beziehung Revue passieren. Pfeiffers sensible Regie lässt dabei immer durchscheinen, dass alles nur eine Erfindung sein könnte. Doch die gewohnten weißen Rosen, nach deren Herkunft R. nie gefragt hat, fehlen an diesem Geburtstag…
Ein fragiles psychologisch-poetisches Kunststück mit der abgründigen Melancholie der frühen 1920er Jahre, das niemanden kalt lässt.
E.E.-K.

Spieldauer ca. 1 Stunde, keine Pause.

Die nächsten Termine: 4.05.12 // 5.05.12 // 6.05.12

Donnerstag, 25.10.2012

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