Die Entführung aus dem Serail (kultur 57 - Mai 2009)

Verwirrte Seelen im Harem - Die Entführung aus dem Serail von Wolfgang A. Mozart in der Oper

Vor das glückliche Ende der Entführung aus dem Serail hat Mozart die Zweifel gesetzt. Ausgerechnet bei den letzten Vorbereitungen zur Flucht sind Belmonte und Pedrillo sich der Treue ihrer Geliebten plötzlich nicht mehr ganz sicher. Was die selbstbewusste Blonde mit einer herzhaften Ohrfeige quittiert, lässt die soeben noch vergossenen Freudentränen der standhaften Konstanze zu Tränen der Wut und Enttäuschung werden. Regisseur Markus Dietz nimmt die Gefühlsverwirrungen in Mozarts vermeintlich bloß heiterem Singspiel ernst und deckt die bitteren Zwischentöne auf. Wolfgang Lischke am Pult des Beethovenorchesters prescht mit energischem Tempo durch die Partitur, arbeitet dabei aber gleichwohl die emotionalen Tiefenschichten sorgfältig heraus. Zu hören ist ein schlanker, transparenter Mozart-Ton, wobei die Gesangssolisten oft auf einem Steg vor dem Orchestergraben platziert sind, was nicht nur die Textverständlichkeit erhöht und die Stimmen nach vorne rückt, sondern auch die Figuren näher bringt. Ganz so porentief nah wie bei den penetrant eingeblendeten Großaufnahmen von tränenden Augen und zitternden Lippen muss es allerdings nicht zwingend sein.
Auf die vertrauten Orient-Klischees, farbige Folklore oder den neuerdings üblichen west-östlichen Zusammenprall der Kulturen verzichtet diese Inszenierung von Mozarts ‚Türkenoper’ konsequent zugunsten präziser Charakterzeichnung. Bassa Selims Landhaus am Meer ist ein drehbarer Kubus mit Wasser auf dem Boden und Wänden aus weißem Papier (Bühnenbild: Mayke Hegger), die ständig eingerissen und neu bespannt werden. Ein fragiler Seelen-Innenraum und ein säkularisierter Tempel der Sehnsucht, die alle Liebesirrläufer umtreibt. Der Spanier Belmonte, dem der lyrische Tenor Mirko Roschkowski (ab der nächsten Spielzeit fest im Bonner Ensemble) wundervoll leidenschaftliche Strahlkraft verleiht, hat sich auf den Weg gemacht zu seiner von Piraten entführten Braut Konstanze. Der türkische Edelmann Bassa Selim hat sie zusammen mit dem Dienerpaar Pedrillo und Blonde auf einem Sklavenmarkt gekauft. Der Bonner Theatergängern noch bestens bekannte Schauspieler Hanno Friedrich ist ein Glücksfall für diese Sprechrolle: Kein alter Pascha, sondern ein höchst attraktiver Mann mit durchtrainiertem Körper und kultiviertem Geist, an dessen heißem Begehren Konstanze durchaus Feuer fangen könnte. Er trägt sie zärtlich auf seinen starken Armen, könnte sie zur Liebe zwingen, respektiert jedoch ihr tapferes Herz. Sigrun Pálmadóttir im eleganten weißen Kleid (Kostüme: Henrike Bromber) gestaltet ihre zwischen neuer Sinnlichkeit und altem Liebesschmerz schwankende Konstanze souverän, bewältigt die rasanten Koloraturen fast mühelos, beschwört ihren Herzenskummer lyrisch anrührend und die „Martern aller Arten“ als hochdramatischen Verzweiflungsausbruch.
Die junge Julia Novikowa lässt bei ihrem Debüt als kokette Engländerin Blondchen sängerisch und spielerisch keine Wünsche offen. Mit ihrem bezaubernd feinen Sopran, mit dem sie „Zärtlichkeit und Schmeicheln“ einfordert und sowohl ihrem geliebten Pedrillo (äußerst sympathisch und spielfreudig: Tansel Akzeybek mit hinreißendem tenoralem Schmelz) als auch ihrem Besitzer Osmin den Kopf verdreht, gehört sie fraglos auf die Habenseite der Aufführung. Ebenso wie der samtig schwarze Bass von Ramaz Chikviladze, der dem feisten Haremswächter neben der buffonesken Komik eine keineswegs harmlose Brutalität gibt. Ein paar robuste Maßnahmen täten diesen dahergelaufenen europäischen Laffen und notorischen Schürzenjägern ganz gut. Mit ihrer selbstverliebten Sentimentalität und ihren unverschämten Zivilisationsbehauptungen haben sie in seinem anständig geordneten Reich nichts zu suchen.
Wie der frustrierte Selim, nachdem Konstanze ihm die kalte Schulter gezeigt hat, seine Triebe rabiat an seiner sehr leicht bekleideten Harems-Armee kühlt (die hübschen Damen aus der Statisterie erinnern ein wenig an Gaddafis Amazonen-Leibwache und machen auch im kessen Burkini gute Figur), wirft ein ziemlich schockierendes Schlaglicht auf seine zwiespältige Persönlichkeit. Der Mann ist es gewohnt, sich mit Gewalt zu nehmen, was er haben will. Seine schwarz gewandete, ihrem Herrn unerschütterlich ergebene Janitscharen-Truppe (der Chor unter der Leitung von Sibylle Wagner) scheint auch nicht gerade zimperlich zu sein.
Was selten so deutlich wird, aber im Libretto steht: Selim ist ein Spanier, der vor christlichen Marodeuren in die Türkei floh und zum Islam konvertierte. Belmontes Vater hat sein Glück zerstört. Aus Verachtung für die Missetaten seiner ehemaligen Landsleute schenkt Selim seinen Gefangenen die ersehnte Freiheit. Was sie damit anfangen werden, bleibt ihr Problem. Konstanzes Herz ist trotz der Entscheidung für Belmonte nicht unberührt geblieben von der Liebe des schönen Fremden im Orient. Unter Blondes Schlagfertigkeit wird Pedrillo noch einiges auszuhalten haben.
Zum seine Großmut preisenden Jubelchor geht Selim ins Wasser, das fürs Ertrinken zwar zu flach ist, aber tief genug für ein gebrochenes Herz. Gestützt von seinen Konkubinen bleibt er als Schmerzensmann zurück. Keine Rache, aber auch keine Versöhnung: Die Brücken sind abgebrochen. Kein glückliches Ende also, sondern nur ein bedenkenswertes.
Dem Wechselbad der Gefühle in Mozarts Musik widerspricht die intelligente psychologische Interpretation nirgendwo. Bei aller Ernsthaftigkeit lässt sie den Witz der Handlung und die spielerisch heiteren Momente nicht außer Acht. Das blendend gute Gesangsensemble ist fraglos eine Reise nach Bonn wert. Die beim Publikum heftig umstrittene Inszenierung wirft Fragen auf. Vorsichtshalber empfiehlt das Theater Bonn den Besuch für Zuschauer ab 14 Jahren. E.E.-K.

Aufführungsdauer: ca.2 ¾ Std., eine Pause
Im Programm bis: 4.07.09

Dienstag, 12.01.2010

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