John Barleycorn - kultur 65 - April 2010

Die Metaphysik des Trinkens: John Barleycorn in der Pathologie

Zur Warnung vor den Gefahren des Alkohols taugt Christoph Pfeiffers in jeder Hinsicht geistreiche Inszenierung kaum, trotz der Sensenmann-Etiketten auf den reichlich geleerten Whiskyflaschen. John Barleycorn – Alcoholic Memoirs (deutsch: König Alkohol) heißt der 1913 erschienene autobiographische Roman von Jack London (1876 – 1916), den Pfeiffer sehr reizvoll neu dramatisiert hat. Aus der monologischen Erzählung mit ihren vielen reflexiven Passagen filtert sein Text einen Dialog über Lust und Elend des Alkoholrausches heraus. Jack London, der zu seiner Zeit der erfolgreichste Schriftsteller der USA war (wie viele seiner amerikanischen Kollegen im 20. Jahrhundert) war ein standfester Trinker. John Barleycorn, in englischsprachigen Ländern bestens bekannt als Personifikation des Whis­kys, war sein bester Freund.
Zur Melodie von „House of the Rising Sun“ schmettert Barfrau Barley die berühmte Ballade „John Barleycorn“ des schottischen Dichters und Whisky-Liebhabers Robert Burns (1759 – 1796) hinter der roten Theke der gut bestückten Bar auf der kleinen Bühne des Theaters „Die Pathologie“. Ruth Schiefenbusch im schwarzen Frack und roten Netzstrümpfen ist Königin Barley und schenkt mit stocknüchterner Ironie nach, wenn Jack ihr sein leeres Glas mit dem Zeigefinger zuschiebt, grinst unverschämt zu seinen philosophischen Ergüssen und trinkt mal aus herzlicher Männerfreundschaft einen mit. Sie ist weiblich verführerisch mit der ruppigen Zärtlichkeit einer Herrscherin über den Stoff der poetischen Schöpferkraft und spielt dem Publikum heiter ein paar Informationen über ihr prominentes Opfer zu, das sie zappeln lässt zwischen Gedankenrausch und körperlichem Verfall.
Guido Grollmann spielt Jack in Cowboystiefeln und mit lässigem Hut auf dem kahlen Schädel. Ein weit gereister Abenteurer, scharfer Beobachter sozialer Verwerfungen und hellsichtiger Träumer. Einer von den echten Männern des wilden Wes­tens, die am Schiffsbug und auf dem Pferderücken selbst im Vollrausch noch Haltung bewahren. Einer, der die „weiße Logik“ des Alkoholnebels braucht, um seine Zunge zu lösen und präzis aufzuschreiben, was ihn bewegt. Der Giftstrom durchläuft seine physischen Organe als Heizmittel für die Abgründe der Metaphysik. Leibniz und Voltaire, Schopenhauer und Nietzsche trommeln an seine Hirnschale, während die beste aller Welten sich zwischen kalifornischen Austernräubern, Goldgräbern in Alaska und traurigen Tropen verabschiedet. Jack säuft sich bewusst in die Geistesklarheit und die schnapsseligen sozialen Kontakte, die ihm bei seinen Recherchen die Türen öffnen. Grollmann spielt die verzweifelte Suche nach der Wahrheit unter der Bedingung des jederzeit überall zugänglichen Alkohols sehr eindringlich als Studie eines unheiligen Trinkers, der nur süchtig nach sich selbst ist und deshalb sein Leben zerstört. Ein leichtes Augenflackern, minimal schwere Zungenschläge und winzige Unsicherheiten beim Gang nach der ersten Flasche kündigen sanft das Stadium bester Rausch-Laune an. Von der zweiten Flasche bis zum Koma ist der Weg mit Stolpersteinen aus Selbstmitleid und Angstlügen gepflastert. Grollmann spielt das realis­tisch bis an die Schmerzgrenze, lässt aber keinen Zweifel daran, dass der Suff nur ein gefährliches Spiel des genialen Autors ist, der tödlich einsam den letzten Tango mit der treuen Barley wagt. Nach 75 intensiven Minuten kippt er ganz einfach bewusstlos um. Die letzte leidenschaftliche Klarheit ist der Tod. London starb mit 40 Jahren und hat dafür nicht mal eine Flinte gebraucht wie 1961 sein Kollege Hemingway, der auch gern mit der/dem unsterblichen Barleycorn tanzte.
Ein literarisch und darstellerisch hochprozentiges Vergnügen für intelligente Theatersüchtige, die bei der Premiere die Pathologie bis zum letzten Platz füllten. E.E.-K.

Aufführungsdauer: ca. 1¼ Std., keine Pause
Nächste Vorstellungen: 20.04./21.04.10

Samstag, 05.02.2011

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