Der Fremde - kultur 65 - April 2010

Dramatisch zugespitzte Existenzphilosophie: Der Fremde im Euro Theater Central

Die prinzipiell undramatische Geschichte des „Fremden“, der kurz vor dem Schafott glück­lich die „zärtliche Gleichgültigkeit der Welt“ empfindet und sich viele Zuschauer bei seiner Hinrichtung wünscht, hat der junge Regisseur Jan Steinbach im Euro Theater Central (es ist dort nach Lieblingsmenschen seine zweite Arbeit) in der Theaterfassung von Werner Düggelin und Ralf Fiedler inszeniert. Es gibt zwei Meursault-Figuren auf seiner mit Tischen, Stühlen und bunten Einkaufstüten gefüllten Bühne. Aus den Tüten kommen überraschend witzige Sprach- und Musikfetzen von der Deutungshoheit behauptenden Literaturkritik bis zum banalen Schlager: das postmoderne Rauschen der Konsumgesellschaft, deren hoffnungslose Beliebigkeit Camus’ Revolte gegen die Fesseln der unzulänglichen ­Vernunft ins 21. Jahrhundert ver­längert. Was­ ­Meursault erzählt in dem 1942 erschienenen Roman Der Fremde des späteren Literaturnobelpreisträgers Albert Camus, ist eine Folge von Lebensmomenten, denen keine Entscheidungen vorausgehen. Es gibt keinen Kausalzusammenhang zwischen dem Tod der Mutter, der Begegnung mit Maria, der Einladung des Nachbarn und den tödlichen Schüssen auf einen Araber am Strand. Was reiner Zufall war in Meursaults nüchternem Bericht, wird erst durch die Interpretation vor Gericht zu einer Verkettung von Indizien. Die Doppelstruktur der Erzählung spiegelt die Inszenierung geschickt in der Verdopplung der Figur des Meursault. Richard Hucke spielt mit atemberaubender Intensität den Ich-Erzähler, dem die Geschichte widerfährt. Seine als bedeutungslos erlebte Gegenwart wird absurd durch die nachträglichen fremden Deutungen. Er rebelliert wie Camus’ Sisyphos geduldig gegen die Sinnzumutungen einer Welt, die Entscheidungen verlangt, obwohl alles gleichgültig ist. Der junge Frank Musekamp ist mal sein Schatten, mal ironi­sches Echo. Hass­erfüll­te Schreie wünscht Meursault sich als Begleitung auf seinem letzten Gang. Es wäre der Beweis dafür, dass er nicht gänzlich weltfremd war, sondern auf seine Weise zugehörig. Im Euro Theater wird daraus kein Thesenstück, sondern ein sinnlicher, höchst spannender Essay über das Leben ohne Gebrauchsanweisungen. Eine neue Lektüre eines Klassikers der Weltliteratur, die viel über die universale Fremdheit von Menschen im Zeichen der Globalisierung zeigt. Sehr empfehlenswert auch für Schulklassen! E.E.-K.

Aufführungsdauer: ca. 80 Min., keine Pause
Nächste Vorstellungen: 13.04./23.04./24.04.1

Samstag, 05.02.2011

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