Gisela – Giselle - kultur 78 - Juli 2011

Leben als Tanz: Gisela – Giselle im Euro Theater Central

Sie musste einfach tanzen. 1945 wurde Gisela Pflugradt in Berlin geboren, 1953 übernahm die legendäre russische Tänzerin und Tanzpädagogin Tatjana Gsovsky die Ausbildung des hochbegabten Mädchens. Mit gerade mal 15 Jahren bestand Gisela ihr Ballettexamen, vor ziemlich genau 50 Jahren tanzte sie zum ers­ten Mal an der Bonner Oper.1963 bekam sie hier ein festes Engagement, tanzte als Solistin bis 1981. Ausgerechnet die Giselle in dem gleichnamigen großen Handlungsballett von Adolphe Adam hat sie nie getanzt. Die um ihre Liebe betrogene Giselle erliegt ihrer Tanzleidenschaft und wird zum tanzenden Luftgeist, der die Männer zum Tanzen um ihr Leben zwingt. Es geht um den Tanz selbst in dem berühmten Werk, das die Kompanie BoKomplex als Grundlage seiner zweiten abendfüllenden Produktion gewählt hat. Gisela – Giselle ist aber vor allem eine Hommage an Gisela Pflug­radt, die vor mehr als 40 Jahren zusammen mit Claus Marteau das Euro Theater Central gründete und es seit dessen Tod 1995 leitet. Zum ersten Mal ist hier auf der Zimmerbühne nun eine Tanzproduktion zu erleben.
Bärbel Stenzenberger schwebt ganz in Weiß vom Bühnenhimmel. Sie spielt die erwachsene Gisela und gleichzeitig immer auch die tanz­wütige Giselle. Olaf Reinecke ist der Albrecht des Tanzdramas und der Mann an Giselas Seite, mit dem sie neben dem Tanz das lebte, was sie zu ihrer Lebensaufgabe machte: „Die Leute zum Denken und Fühlen bewegen“. Virtuose Ballett-Kunststücke wie 32 Fouettés hätten sie nie interessiert, erklärt sie in einem der Interviews, die aus dem Off zugespielt werden. „Ich hätte auch 40 machen können, aber es muss etwas aussagen. Ich wollte nie nur tanzen, um technisches Können zu beweisen, sondern um damit zu berühren.“ Es sind lo­cker und unprätentiös präsentierte Bekenntnisse zum Theater, kleine biographische Anekdoten und Einblicke in den Bühnen­alltag, die in der Tonspur mitlaufen, während die beiden Tänzer die Geschichte mit ihren eigenen Bewegungen kommentieren und dabei zur suggestiven Musikcollage von Miroslav Wilner immer Kunstfiguren bleiben.
Szenen aus Giselas Leben hat die finnische Tänzerin und Mediendesignerin Sirpa Wilner filmisch festgehalten. Es gibt bewusst kunstlos wirkende Momente, wenn Früheres mit heutigem Blick nachgestellt wird, es gibt merkwürdige Irrläufe durch Probenräume und perspektivisch verzerrte Gänge durchs Opernhaus und die engen Flure im Euro Theater. Lebensgefährte Claus Marteau – verkörpert von Olaf Reinecke – verschanzt sich kettenrauchend hinter Bücherbergen im winzigen Büro, Gisela räumt auf und kümmert sich um die praktischen Betriebsabläufe. Als Video taucht die junge Ballettratte Gisela mit dunklem Bubikopf auf (verkörpert von Elevinnen der Ballettschule International Bonn) und tanzt Giselles sehnsüchtigen Albtraum von der Liebe, die an der Wirklichkeit scheitert.
Das Ganze ist trotz der vielen, teilweise witzig verfremdeten Realitätspartikel kein schlichtes Dokumentarstück und schon gar nicht eine private Lebensstory aus der Schlüssellochperspektive.
Stenzenberger und Reine­cke erfinden eine eigenständige Bühnenrealität mit präzis choreographierten Aktionen und durchgeformten Körperbildern. Sie sind melancholisch und aggressiv, zärtlich und wütend, brechen die intime Nähe durch Fluchtfantasien und poetische Energie. Romantik paart sich mit schweißtreibender Disziplin. Im Euro Theater sind die Zuschauer sehr dicht dran an den Tänzern, spüren hautnah die konzentrierte Arbeit der Muskeln und Sehnen und sehen die kraftzehrende Produktion der schönen Illusionen. Auf der Bühne steigt Stenzenbergers Gisela am Ende in den weißen Tüllrock der Giselle wie in eine Kampfrüstung und macht sich in der schönsten Filmsequenz des Abends auf eine Wanderung über abgewrackte Güterwagen am Rheinufer. Leichtfüßig tanzt sie auf den rostigen Ruinen einstiger technischer Mobilität. Eine exemplarisch starke Frau, die immer einen Weg aus dem Stillstand findet, weil sie ein Ziel hat: Theater machen für Menschen, die geistig beweglich bleiben möchten. E.E.-K.

Aufführungsdauer: ca. 75 Min., keine Pause
Im Programm bis: ?????

Samstag, 04.02.2012

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