Das Mädchen mit den Email-Augen - kultur 36 - April 2007

Wimpernschlag der Sehnsucht - Das Mädchen mit den Email-Augen - Tanztheater von Stephan Thoss in der Oper (Uraufführung)

Ein bisschen Verwirrung hatte im Vorfeld die vom Theater Bonn selbst verbreitete Lesart der künstlich emaillierten „Email-Augen“ der Puppe Coppelia als „E-Mail“-Augen gestiftet. Der vielfach preisgekrönte Gastchoreograph Stephan Thoss (ab der nächsten Saison Tanzchef bei Manfred Beilharz in Wiesbaden, wo gerade die Fans des klassischen Balletts den Aufstand gegen das moderne Tanztheater proben) hat bei seiner neuen Interpretation des berühmten Ballettklassikers Coppélia von Léo Delibes jedoch nicht das vertraute @ im Blick, sondern das Sehen selbst, die Spiegel- und Trugbilder des Schönen als Traum von der äußerlichen und wie das Schmelzprodukt Email zur puren Oberfläche geronnenen Perfektion. Das brillante Ensemble des Choreographischen Theaters Bonn tanzt die Geschichte von dem jungen Mann, der seine Geliebte aus Fleisch und Blut wegen einer herz- und geistlosen Puppe verschmäht, mit geradezu blendendem Temperament, wenn auch nicht immer auf dem Siedepunkt der künstlichen Gefühle.
Auf der variablen Bühne von Heiko Mönnich tummeln und lümmeln sie sich vor hohen, metallisch schimmernden Wänden wie auf einer schrillen Vorstadtparty, finden aber immer wieder zu alten Tanzfiguren und Schrittfolgen zurück. Sie sind zärtlich und bissig, sanft und aggressiv, ehrlich und hinterhältig gemein: künstlich schöne Maschinenmenschen und ganz individuelle Personen mit eigenen Gefühlen und Sehnsüchten. Immer wieder öffnet und schließt sich ein riesiges Auge, hält ein Bild fest und lässt es wie bei filmischen Short-Cuts wieder verschwinden: Die Netzhaut als Spiegel der anderen im Reflex der eigenen Wahrnehmung, die schöne Oberfläche als Produkt des Augenblicks und ständige Sinnentäuschung.
Ein einsamer alter Mann (mit hinreißender emotionaler Intensität: Przemyslaw Kubicki alternierend mit Ziv Frenkel) träumt in seinem engen, grässlich großmustrig tapezierten Zimmerchen von seiner Frau, die nur noch in seinen Erinnerungen lebendig ist. Eine hübsche junge Frau (mit sensibler Ausstrahlung und großer Ausdrucksvielfalt: Alexandra Kunz / Linda Ryser) beobachtet sein Leiden und sehnt sich nach einer ähnlich tiefen Beziehung. Vergeblich: Ihr junger Freund (kraftvoll: Sascha Halbhuber / Rory Stead) macht einem Wesen schöne Augen, das scheinbar makellos durch den Raum geistert und die Erfüllung all seiner Sehnsüchte verspricht. „Zwei Märchenaugen“ aus Kalmans Operette Die Zirkusprinzessin halten dem ernsthaft liebenden Blick zwar nicht stand, sind jedoch als Projektion des männlich begehrlichen Blicks eine Gefahr. Das Mädchen schlüpft in die Maske ihrer vermeintlichen Konkurrentin, um die Gefühle des Geliebten zu erkunden. Was mit spielerischer Neugier beginnt, wird zur traurigen Einsicht: Der junge Mann bemerkt den Unterschied zwischen der leblosen Puppe und der lebendigen Frau ganz einfach nicht und verfällt immer mehr seinen Träumen von der weiblichen Perfektion. Der alte Mann sieht in ihr nur das Abbild seiner verlorenen Frau. Verzweifelt beginnt sie, die Puppe zu zerstören und ihren eigenen Körper grausam zu deformieren. Eine silbrig glänzende, nackte Frauengestalt taucht auf wie aus einer anderen Welt. Ist das kalte Retortengeschöpf die neue Wirklichkeit oder wieder nur ein Phantasiegebilde der Schönheits-Kult-Maschinerie? Sind wir Opfer oder Kunden einer Industrie der jederzeit herstellbaren, beliebig der Mode anpassbaren Körperverstümmelung?
Thoss stellt seine Fragen unaufdringlich mit trockenem Witz und luftigem Tempo. Zur hochemotionalen Musik von Johannes Brahms - insbesondere zum Andante des Doppelkonzerts - entwickelt er zauberhaft melancholische Bilder und filigrane Tanzetüden über die Vergänglichkeit des Scheins. Die poppigen „Paper-Dolls“ in den frechen schwarz-roten Kostümen von Carmen-Maria Salomon sind hitverdächtig. Die heutigen „Puppets on a String“ haben ja Spaß am Disko-Gezappel und der Aufziehpuppen-Ästhetik. Der kleine, kurze und dramatisch ziemlich kurzweilige Wimpernschlag zwischen romantischer Sehnsucht und Albtraum entfacht zwar keinen Wirbelsturm der Erkenntnis, ist aber ein liebenswürdig eleganter Essay über die Wahrnehmung des Lebens und die Lügen des Körpers. E.E.-K.

Aufführungsdauer: ca.90 Min./keine Pause
Im Programm bis: 6.05.07

Mittwoch, 03.10.2007

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