Polsprung - kultur 72 - Januar 2011

Weihnachten im Gebirge: Polsprung im Euro Theater Central

Der Mann scheint irgendwie durchgeknallt zu sein. Schleppt Kisten in eine für kurze Zeit gemietete Berghütte, als ob er dort in 2.400 Metern Höhe Jahre verbringen wollte. Viktor Abramowitsch ist freilich durchaus klar im Kopf. Er hat an alles gedacht, um den baldigen Polsprung zu überleben. Den gibt’s übrigens wirklich. Etwa alle 250.000 Jahre kehrt sich das Erdmagnetfeld um. Die letzte Umpolung fand allerdings vor ca. 780.000 Jahren statt, ist also quasi überfällig. Womit der Maya-Kalender ins Spiel kommt, der nach diversen Interpretationen das Ereignis genau für den 21. Dezember 2012 vorsieht. Über 5.000 Einträge verzeichnet Google derzeit dazu. Relativ sicher vor der Katastrophe, die sich mit Erdbeben, Wirbelstürmen und Überschwemmungen ankündigt, soll man an Orten in über 1.800 Metern Höhe sein. Man braucht nicht mal Wikileaks zu konsultieren, um zu wissen, dass in den politischen Schaltzentralen längst Computersimulationen für die magnetische Feldumkehr und eine mögliche geographische Achsenkippung der Erde liegen.
Dennoch ist Polsprung, das neue Stück des bekannten österreichischen Autors Gabriel Barylli, das das Euro Theater Central jetzt als deutsche Erstaufführung in der Regie und Ausstattung von Karlheinz Angermeyer herausgebracht hat, reine Fiktion. Knud Fehlauer spielt den vom bisherigen Leben enttäuschten Rechtsanwalt Viktor, der nach dem Ende der destruktiven Zivilisation auf eine bessere Welt spekuliert: „Wir werden eine neue Kultur der Menschlichkeit, des Mitgefühls und der Liebe errichten.“ Für den Zwischenaufenthalt in der Bergeinsamkeit hat er mitgebracht, was der Mensch so braucht für die Apokalypse: Solarbatterien, zentnerweise kalorienreiche Nahrung, dicke Bücher, einen Weltradio-Empfänger mit mechanischem Kurbelantrieb, einen gültigen Jagdschein (was auf der Bühne einen niedlichen Stoffhasen das Zeitliche segnen lässt), Fischkonserven (bis in die letzte Zuschauerreihe riechbar) und etliche Flaschen Johnny Walker (stilvoll: auf den aus Umzugskisten improvisierten Tisch kommt nur Black Label).
Der muss freilich rationiert werden nach dem feuchtfröhlichen Heiligabend, zu dem Jakob Fernreiser, seit kurzem Besitzer der Hütte, sogar ein Weihnachtsbäumchen herangeschafft hat. Hanno Dinger als sympathisch fürsorglicher, bodenständiger Typ hält Viktor mit guten Gründen für einen esoterischen Spinner und frustrierten Psychopathen und glaubt lieber an den fabelhaften Kaiserschmarrn seiner neuen Herzensdame unten im Tal. Vergeblich, denn ein großes Getöse vor der Theaterpause deutet eine längere Zwangspause in luftiger Höhe an.
Mit Flinte und Pistole standen sich die beiden anfangs gegenüber, werden nun aber noch eine gute Weile miteinander auskommen müssen. Es war eine ‚ganz normale’ Lawine, die die beiden bis März 2013 (die Daten werden per Diaprojektor eingeblendet) zur prekären Zweisamkeit im emotional aufgeheizten Schnee-Männerhort zwingt. Ihre Dialoge ste­cken voller überraschender Pointen, auch wenn das Warten auf das finale Desaster etwas langatmig gerät. Am Licht muss gespart werden, was zu lustigen theater- und konversationsstrategischen Blackouts führt.
Bis endlich die Sonne wieder über den Wolken auftaucht und das Eis wegtaut. Doch was ist zwischenzeitlich auf Höhe Null passiert? Ist der Rhein rückwärts geflossen und das Mittelmeer zugefroren? Denkbar ist alles in diesem intelligenten Klima-Katastrophen-Thriller. E.E.-K.

Aufführungsdauer: ca. 2 Std., eine Pause
Im Programm bis: ????
Nächste Vorstellungen:
28.12./29.12./30.12./14.01./15.01./16.01.

Montag, 21.03.2011

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