In der Strafkolonie - kultur 95 - April 2013

In der Strafkolonie nach Franz Kafka im Theater Die Pathologie: Entsetzliche Maschine

Den grausamen Folterapparat sieht man nicht, spürt seine Monstrosität aber massiv in der Inszenierung von Christoph Pfeiffer. Er hat Kafkas berühmte, 1914 verfasste Erzählung In der Strafkolonie, die mittlerweile längst zum Kanon der Weltliteratur gehört, neu für die Bühne bearbeitet. Und historisch vorwärts gespiegelt in eine Zeit, in der die Maschinerie des Tötens perfekt funktionierte. Der höchst belesene KZ-Kommandant Dr. Karl Grotewohl, der gern erlesenen Champagner aus der Flasche säuft, trifft seinen ehemaligen Buchhändler Moses Mendelssohn, der nicht grundlos den Namen des großen jüdischen Aufklärungsphilosophen trägt. Sie übernehmen die Dialoge zwischen dem Reisenden und dem Offizier, die sich im wüsten Niemandsland eines Straflagers wiederbegegnen. Sie sprechen Kafka mit einem lebensgefährlichen Subtext, bei dem sie zugeschriebene Rollen spielen und durchbrechen.
Der Schauspieler Enne Schütz, barfüßig und kahlrasiert im gestreiften Gefangenen-Anzug, scheint das unterwürfige ängstliche Opfer zu sein. Guido Grollmann im schwarzen Ledermantel gibt den zynischen Täter. Beide freilich geben sich Kafkas Beschreibung des „eigentümlichen“ Exekutionsapparates hin, der dem ohne Prozess Verurteilten in einer ausgeklügelten langen Prozedur sein Urteil blutig auf den Leib schreibt. Beide spielen mit der Faszination der schrecklich effektiven Maschine, die nüchtern ihr Räderwerk vollzieht. Sie belauern und demütigen sich lustvoll, während vom Band Händels Musik über dem sadistischen Grundton anschwillt. Sie zitieren die Qualen des unschuldigen Delinquenten als ästhetische Raffinesse und das Böse als teuflische Maskerade des abgründigen Weltgeistes. Im schattenlosen Tal der Kolonie heizen sie sich mit Alkohol auf und explizieren feinsinnig ironisch die mechanischen Details der genialen Hinrichtungskonstruktion. Bei Kafka beweist der Offizier am Ende nach dem gescheiterten Versuch mit einem wegen Unbotmäßigkeit zum Tod abkommandierten und zufällig zwangsläufig ins Leben zurückgeschickten Häftling selbst die mörderische Kunstfertigkeit seines großartigen Apparates. Dieser macht freilich sehr kurzen Prozess mit seinem geradezu erotisch in den sauberen Schmerz verliebten Verehrer.
Regisseur Pfeiffer spitzt das Paradox hellsichtig zu: Der von dem schmutzigen Geschäft angewiderte Nazi überlässt dem Juden seine Pistole. Dieser wird sie als letzten Dienst für seinen Herrn benutzen. Über den mächtigen KZ-Kommandanten („Herr Doktor – so viel Zeit muss sein“) wird der Mantel der Geschichte hinwegwehen, der kleine jüdische Kollaborateur wird als Held überleben. Die drei Schwes­tern des deutschsprachigen Prager Juden Franz Kafka (1883 – 1924) überlebten die Konzentrationslager und Ghettos nicht.
Die tiefschwarz-humorige dramatische Re-Lektüre seiner von dem französischen Romancier und Kunstkritiker Octave Mir­beau inspirierten Erzählung Le jardin des supplices (anspielend auf Hieronymus Boschs Gemälde Der Garten der Lüste) geht buchstäblich unter die Haut.
Für jugendliche Zuschauer unter 18 Jahren ist die intelligente, intensiv gespielte Aufführung nicht geeignet.

Spieldauer ca. 75 Minuten,
keine Pause
Die nächsten Termine:
26.04. / 27.04.13

Dienstag, 01.10.2013

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