Erdbeben in London - kultur 80 - November 2011

Erdbeben in London von Mike Bartlett in den Kammerspielen

„Alles kommt vor“, schreibt der gerade dreißigjährige britische Autor Mike Bartlett im Vorwort zu seinem 2010 mit großem Erfolg uraufgeführten Stück Erdbeben in London. So ziemlich alles, was die Menschheit bewegt, wird auch angerissen in der tiefschwarzen Komödie, die in London als schrill-bunte Revue auf die Bühne kam. In der Regie von Johannes Lepper bleibt die deutschsprachige Erst­aufführung in den Kammerspielen eher düs­ter. Im kühl abstrakten Bühnenbild von Martin Kukulies dominiert Endzeit-Schwärze, über weit bis in den Zuschauerraum hinein reichende riesige Videowände (Videos: Matthias Neuenhofer / Jan Wagner) flimmern allerhand Bilder von Mikro- und Makrokosmos und globaler Destruktion.
Mit atemberaubendem Tempo springt das Stück durch die Zeiten. Szenenschnipsel prallen aufeinander, überlappen sich. Es ist eine wüste Familiengeschichte, ein Wirtschaftskrimi, eine Umweltkatastrophen-Farce, ein absurdes Endspiel. Ein ständig wummernder Herzschlagton frisst sich vom Ohr in den Bauch; außerdem regnet es so viel, dass eine Sintflut kaum noch vermeidbar erscheint.
Lepper entwirrt das Chaos geschickt, setzt präzise Akzente und stellt das großartige Schauspiel-Ensemble ganz nach vorn. Irgendwo in den schottischen Highlands haust der verbitterte Wissenschaftler Robert, der längst den Menschen als ärgsten Feind der Schöpfung ausgemacht hat und edlen Whisky bevorzugt, während er in seinen Büchern den Weltuntergang prophezeit. Wolfgang Rüter spielt eindrucksvoll den alten Misanthropen, der seine drei Töchter sich selbst überlassen und seit Jahrzehnten nicht gesehen hat. Ein bisschen „Lear“-Verzweiflung klingt in der Konstellation an. Leider hat der berühmte Klimakatastrophen-Warner in den 1960er Jahren selbst seine Forschungsergebnisse gegen großzügige ‚Drittmittel’ aus der Flugzeug-Branche für diese ‚aussagekräftig’ gemacht.
Unbestechlich ihre Ziele – z.B. den sofortigen Ausbau-Stopp aller britischen Flughäfen – verfolgt seine zur Umweltministerin aufgestiegene älteste Tochter Sarah. Tatjana Pasztor spielt die im politischen Geschäft verhärtete Machthaberin fabelhaft genau. Dass sie nach ein paar Cocktails in einem schicken Restaurant beinahe den Avancen eines Wirtschaftsbosses (elegant bösartig: Hendrik Richter) erliegt, ist nur allzu menschlich. Ihr arbeitsloser Gatte Colin (wunderbar skurril als schlaksiges Banker-Wrack: Bernd Braun) sucht derweil Trost bei ihrer jüngsten Schwester Jasmine. Maria Munkert in knappen schwarzen Shorts (Kostüme: Beatrice von Pilgrim) gibt perfekt die verlotterte Ex-Studentin, die auf Drogen-Dauertrips ihre Lover wechselt und ihre Wut auf alles rauskotzt. Hübsch aufsässig präsentiert Oliver Chomik Jasmines neue Eroberung Tom, der als Radikalidealist für die Hungernden in Afrika und gegen das Flüchtlingselend in aller Welt zu Felde zieht.
Die vielschichtigste Figur ist Roberts mittlere Tochter Freya, hochschwanger und unschlüssig, ob sie ihr Baby tatsächlich in eine zugrunde gehende Welt entlassen soll. Birte Schrein zeigt beklemmend sensibel eine verwirrte Irrläuferin am Rande des Wahnsinns. Ihre Albträume führen sie durch Parks und über gefährliche Brücken. Vater Robert rät ihr erbarmungslos, das Kind rechtzeitig vor dem nahenden Erdbeben zu töten, um ihm ein grausames Dasein zu ersparen. In einer hinreißend grotesken Szene wird Freya plötzlich von einer Schar weißhaariger schwarzer Mütter heimgesucht, die schwarze, mit Wasser gefüllte Kinderwagen wie kleine Särge vor sich herschieben und fürchterlich liebevoll nasse Babypuppen ins Licht halten.
Vergeblich schwiegerväterlichen Rat gesucht hat auch Freyas Ehemann Steve (herrlich verhuscht: Christian Schulz), der als Autor von Ratgeber-Bestsellern ganz gut über die Runden kommt und ein echter Papa für die ungeborene Emily sein möchte.
Die könnte 2025 eine junge Filmemacherin sein, wenn Freya aus dem Koma erwacht, in das sie ein Erdbeben, ein selbstmörderischer Sturz von der Brücke oder die Wehen versetzt haben. Möglicherweise leben dann ja all diese seltsamen Apokalyptiker noch, die 2011 am Projekt „Weltrettung“ scheiterten. Zauberhaft poetisch geistert Sabine Wegmann (gleichzeitig Roberts verstorbene Gattin Grace und Enkelin Emily) als altkluger Junge Peter durch die Szenerie. Ein autistisches Kind und ein melancholischer shakespearescher Narr. Als ärztlicher Geburts-/Sterbenshelfer hat Konstantin Lindhorst einen kleinen Auftritt. Dauernd präsent ist Günter Alt als schelmischer Beobachter und glänzt nebenbei als Edelboutiquen-Herrenanzugverkäufer Liberty.
Ein welterschütterndes, dramatisches Erdbeben findet nicht statt. Aber ein spannendes, wenn auch etwas zu langatmiges Theaterereignis, bei dem Vieles witzig pointiert und aktuell zur Sprache kommt. Leppers Inszenierung sorgt dafür, dass es im Gag-Gewitter nicht ins plakative Nichts abrutscht. Die Botschaft von Ressourcenverschwendung, Überbevölkerung, Korruption und Umweltverschmutzung ist wahrhaftig nicht neu. Hier jedoch als intelligentes Schauspiel bestens verpackt. Der Autor ließ es sich nicht nehmen, selbst zur Premiere anzureisen und zollte dem animierten Ensemble den gebührenden Beifall.
Die Zuschauerreihen hatten sich inzwischen zwar leicht gelichtet, der große Rest applaudierte umso herzlicher. E.E.-K.

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Spieldauer ca. 3 Stunden inkl. einer Pause.
Im Programm bis 11.12.2011
Die nächsten Termine:
10.11.11 // 13.11.11 // 16.11.11// 23.11.11 // 30.12.11

Dienstag, 14.02.2012

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