Tobari - kultur 77 - Juni 2011

Der Choreograph und Tänzer Ushia Amagatsu gilt als Philosoph in der japanischen Tanzszene. Sein 2008 in Paris mit außerordentlichem Erfolg uraufgeführtes und seitdem weltweit gefeiertes Stück Tobari, das im Bonner Opernhaus seine Deutschlandpremiere

Der Choreograph und Tänzer Ushia Amagatsu gilt als Philosoph in der japanischen Tanzszene. Sein 2008 in Paris mit außerordentlichem Erfolg uraufgeführtes und seitdem weltweit gefeiertes Stück Tobari, das im Bonner Opernhaus seine Deutschlandpremiere feierte, handelt vom Kosmos des Lebens. Von Hell und Dunkel, Geburt und Tod, dem grenzenlosen Nichts, aus dem die Bewegungen entstehen und in das sie am Ende wieder eintauchen.
Amagatsu hat die freie Formensprache des Butoh-Tanztheaters weiterentwi­ckelt und verknüpft sie mit der klassischen Strenge traditioneller japanischer Tanztechniken und modernem Ausdruckstanz. Die Bewegungen der komplett weiß geschminkten neun Tänzer der ausschließlich männlichen Compagnie Sankai Juku sind fast meditativ langsam. Sie agieren aus einer inneren Spannung heraus, die bis in die Fuß- und Fingerspitzen reicht. Eine ungeheure geistige Konzentration trägt die Bühnenaktionen, die sich vordergründigen Bedeutungen entziehen und statt eines narrativen Kontinuums einen unendlichen Energiefluss verströmen. Im unendlichen Fluss der Energie heißt denn auch eins der sieben Bilder des knapp 90-minütigen Abends, Traum einer vertikalen Zukunft ein anderes. Kraftzentrum der aufs Äußerste gespannten Ruhe ist Amagatsu selbst, der in einzelnen Soloszenen auch Emotionen aufscheinen lässt. Es geht jedoch nie um individuelle Gefühle, sondern um die Aufhebung des Persönlichen im Existenziellen. Seinem Ensemble verlangt der Choreograph, der sich dem Dialog mit der Schwerkraft verschrieben hat, dabei fast Unmögliches ab. In einem ungemein suggestiven Bild scheinen vier Tänzer mit leicht angehobenem Ober- und Unterkörper auf dem Boden liegend diesen wirklich zu verlassen und einen Augenblick lang zu schweben im Nachtblau.
Jenes wird von einer riesigen runden Spiegelfläche auf dem Bühnenboden reflektiert, auf der über tausend kleine Lichter den Winterhimmel über Tokio nachbilden. Den strahlenden Sternenhimmel der japanischen Hauptstadt zur Mittsommernachtswende zeigt im Hintergrund ein die gesamte Bühnenbreite füllender Vorhang, den die Tänzer selbst hergestellt haben. Das gehört zum Konzept der Produktion: Das Leuchten von innen und außen musste durch ihre konkrete Arbeit und ihr Bewusstsein hindurchgehen, bevor sie es zum sinnlich geistigen Ereignis machen konnten. Die Tonspur aus fernöstlichen Klängen und elektronisch verfremdeter Minimal Music lässt Momente der absoluten Stille zu, in denen Raum und Zeit zu einer Einheit verschmelzen.
Zum Beifall verbeugen die Tänzer sich nicht, sondern knien nieder, während Ushia Amagatsu mit den Armen einen großen Kreis beschreibt, als wolle er noch einmal das ganze unbegreifliche Universum umfassen. Für Sankai Juku bleibt jede Bühnen-Performance ein Ritual an einem geradezu heiligen Ort. Die gesamte Gage für die kurzfristig angesetzte zweite Vorstellung spendete das japanische Ensemble für die Erdbebenopfer in seiner Heimat.

Das zahlreich erschienene Bonner Publikum goutierte die beiden hochkarätigen Gastspiele aus Ostasien mit einer Mischung aus Irritation angesichts sehr fremder Denkweisen und Begeisterung für die fabelhaften tänzerischen Leistungen. E.E.-K.

Donnerstag, 19.01.2012

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