Antigone - kultur 70 - November 2010

Recht und Regierung in Theben: Antigone
in der Halle Beuel

Im 5. Jahrhundert vor Christus entdeckt das griechische Theater die Möglichkeit des autonomen menschlichen Handelns und gleichzeitig die Ohnmacht des Individuums. Die Tragödie als ureigenster Ausdruck dieser Zeit problematisiert den bis dahin unbefragbaren Mythos, ohne Antworten geben zu können. Der Widerspruch zwischen dem von den Göttern Gesetzten und den Gesetzen der menschlichen Vernunft bleibt unauflösbar.
Antigone, wie ihre drei Geschwister gezeugt von Ödipus und seiner Mutter Iokaste, trägt eine fatale Familiengeschichte mit sich herum. Ihre beiden Brüder haben sich im Kampf um die Herrschaft in Theben gegenseitig umgebracht. Iokastes Bruder Kreon ist legitimer König und hat Polyneikes zum ehr- und grablosen Volksfeind deklariert, Eteokles zum mit allen Ehren zu bestattenden Helden. Das ist politisch gerechtfertigt, entspricht jedoch nicht den heiligen Gesetzen, nach denen jeder Tote von seiner Familie angemessen zu betrauern und mit entsprechenden Zeremonien in die ewige Ruhe zu begleiten ist.
Jan Stephan Schmieding lässt in seiner klaren, sehr stringenten Inszenierung der bekanntesten Tragödie des Sophokles das Vergangene kurz berichten von den auf der Galerie zum Chor versammelten sechs Akteuren. Er entwickelt Sophokles’ Figuren in der präzis-knappen, wortmächtigen Übersetzung von Walter Jens ganz aus der Sprache. Es gibt keine überflüssige Sentenz in dieser strengen Satzarchitektur, der freilich das Fundament weggebrochen ist. Die Holzplanken auf der kahlen, breiten Bühne von Marlene Baldauf sind zersplittert und abschüssig. Halt gibt es in der Tiefe unter dem Boden und auf den Stegen über dem Schauplatz. Dazwischen bewegen sich die Handelnden mit zarten Gold­ornamenten auf der weiblichen Haut und militärischen Goldtressen auf den männlichen Schultern (Kostüme: Karin Jud). Alle sind immer anwesend, allerdings nicht als von außen beobachtender und kommentierender Chor (bei Sophokles spricht der Chor fast ein Drittel des Textes), sondern als individuell in das Schicksal der thebanischen Königsfamilie Verstrickte.
Antigone, als selbstbewusste, eigenständig denkende, aber keineswegs angstfreie junge Frau verkörpert von Philine Bührer, ist keine Anarchistin, die den Aufstand gegen die Staatsmacht probt. Sie vertritt auch kein klassisches Humanitätsideal, sondern verteidigt bedingungslos die ursprünglichen Werte. Der Grund, in dem sie verwurzelt ist, manifestiert sich tatsächlich als Erde, die sie auf die Leiche ihres Bruders streut und mit der sie sich selbst kurz vor ihrem Tod überschüttet. Erde hält sie in der verzweifelt hochgereckten Faust, wenn sie lebendig begraben wird. Ralf Drexler als Kreon trägt die Konsequenzen. Er ist kein brutaler Tyrann, sondern ein nachdenklicher Politiker, der die Königskrone gern beiseite legt, wenn er über Gesetz und Ordnung reflektiert. Er weiß, dass er sich im Zwiespalt zwischen notwendiger Ratio und alter Vorschrift die Hände schmutzig machen muss und dass die Erde ihren Tribut fordert. Seine Familie ist am Ende ausgelöscht: Frau, Sohn und Nichte sind tot.
Nico Link als Kreons mit Antigone verlobter Sohn Haimon zeigt ausdrucksstark viel menschliches Gefühl. Sabrina Tannen als Ismene schwankt angesichts des Todesmuts ihrer Schwester zwischen Furcht und naiver Solidarität und wird von Antigone als nicht konfliktwürdig abgefertigt. Hendrik Richter als Wächter ist sehr komisch als Unglücksbote und als Aufklärer von Antigones Verstoß gegen die königlichen Gebote. Er wird dazu verdonnert, die Bretter über Antigones tödlichem Verließ zu vernageln und hängt danach unter der Galerie als trauriger Held wider Willen. Er gehört nicht zum engeren Familienkreis, ist aber eingebunden ins Geflecht der Familienbande wie der blinde Seher Teiresias, der die Geschichte von Anfang an verfolgt hat.
In dieser Rolle liefert Tanja von Oertzen sicher die intensivsten Momente der Inszenierung. Wie ein kleines vergreistes Kind erklimmt sie einen hohen Schiedsrichterstuhl, zappelt störrisch mit den Beinen, stammelt und jammert und spricht dann gedankenverloren die großen Verse mit einer tragischen Wucht, die Schreckensschauer erzeugt. Das ist abgründig grotesk und fantastisch hellgeistig in einer Inszenierung, die dem antiken Stoff mit Respekt begegnet und seinen 2.500 Jahre alten Kern mit einem heutigen, in sich schlüssigen Zugriff freilegt. Unbedingt zu empfehlen auch für das jüngere Publikum. E.E.-K.

Aufführungsdauer: ca. 1¼ Std., keine Pause
Im Programm bis: ???
Nächste Vorstellungen: 28.10./30.10./07.11./19.11./24.11./18.12.

Donnerstag, 17.03.2011

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