Madame de Sade - kultur 62 - Januar 2010

Schmerzen der Aufklärung - Madame de Sade im Euro Theater

Der höllische Marquis de Sade (1740 – 1814), zeitweise von französischen Literaturtheoretikern vergöttlicht, wurde bekanntlich nach seiner letzten Entlassung aus dem Gefängnis auf Kosten seiner Familie ins Irrenhaus entsorgt und machte dort mit den anerkannt Verrückten Theater, das die illustre postrevolutionäre Pariser Gesellschaft in Scharen anzog. Peter Weiss hat in seinem 1964 uraufgeführten Stück Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspieltruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade die Ideologie der Aufklärung bitter komisch zur Schau gestellt. Perverse Lustpraktiken, wie man sie heutzutage in TV-Nachtprogrammen frei Haus geliefert bekommt, sind dort Sprachspiele. Ebenso wie bei dem japanischen Schriftsteller Yukio Mishima (1925 – 1970), der nicht ohne Grund fasziniert war von der Wollust des amoralischen Denkens und der Paradoxien von Genuss und Grausamkeit. Der elitär erzogene Diplomatensohn wurde nach seinem 1949 erschienenen autobiographischen Roman Geständnis einer Maske, in dem er seine homosexuellen und sadomasochistischen Neigungen poetisch überhöhte, jahrelang als Literaturnobelpreis-Kandidat gehandelt, bevor er eine Privatarmee zum Schutz des japanischen Kaisers gründete und erfolglos zur Abschaffung der Demokratie aufrief. Berühmt wurde sein öffentlicher Selbstmord durch Harakiri als perfekt geplanter, letzter wollüstiger Akt in einem widersprüchlichen Lebensdrama.
Um den abwesenden Herrn de Sade streitet sich in Mishimas 1965 in Tokio uraufgeführtem Stück Madame de Sade die weibliche Welt. Sehr theatralisch, denn ihr dramatisches Eigenleben ist so künstlich wie die Grausamkeit der sexuellen Exzesse des Marquis. Der Regisseur Peter Tömöry (es ist seine 20. Inszenierung am Euro Theater Central) macht da­raus fünf präzis stilisierte Charakterstudien über die Identifikation von Opfern und Tätern und die gemeine Lust an der Qual. Nicht psychologisch (Mitleid gehört nicht zum intellektuellen Repertoire dieser libertinen, materialistischen Gesellschaft des französischen 18.Jahrhunderts), sondern kühl und messerscharf pointiert.
Helga Bakowski spielt mit eiserner Haltung und zynischer Hellsicht die wohlhabende alte Madame de Montreuil, die ihre Tochter Renée an den Sohn eines verarmten, aber mit dem Königshaus verwandtschaftlich verbundenen Adelsgeschlechts de Sade verkauft hat, um gesellschaftlichen Einfluss zu gewinnen. Sie ist die intrigante Präsidentin im raffinierten Weiberparlament. Aurélie Thépaut ist ihre süße, unberechenbare Tochter Anne, die als Musik gewordener Körper ganz naiv mit dem steck­brieflich gesuchten Schwager im venezianischen Karneval untertaucht. Christine Kättner schmachtet als Baronin de Simiane mit kreuzkeuscher Libido nach gläubiger Hingabe. Angelika Fischer ist als androgyne Gräfin de Saint-Fond eine scheinbar skrupellose erotische Freibeuterin. Die schönste Maske trägt Doris Lehner als ungeliebte, vollkommen treue Gattin Renée. Sie organisiert Fluchten und Flittchen. Rechtskräftig hinter Schloss und Riegel, was während ihrer über 25 Jahre haltenden Ehe meistens der Fall war, ist der Mann ein Held und ein ungelöstes Rätsel. Nach seiner Freilassung nur noch ein mieses, geisteskrankes Ekel, von dem sich Renée (natürlich unter Mitnahme seiner Manuskripte und lukrativer Verwertungsrechte) scheiden lässt, um ihre Tage gottgläubig im Kloster zu beenden. Hinreißend ausgestattet sind die scharfzüngigen Damen von Melinda Lörincz, die ihnen solch traumhaft verwilderte Rokoko-Kostüme und Perücken auf den Leib gezaubert hat, dass die sinnliche Lust am Kerker von Samt und Seide, falschen Perlen und Brillanten ein echtes Vergnügen wird. Der Rest ist geistreicher Salon-Seelenabgrund. Ohne blutige Nuditäten oder peinliche Geschmacklosigkeiten nach TV-Manier. In der besseren Gesellschaft liebt und mordet frau schließlich dezent mit feinem Esprit und perfektem Format. Letzteres haben alle fünf Spielerinnen zweifellos.
Für Zuschauer unter 16 Jahren eher ungeeignet. E.E.-K.

Aufführungsdauer: ca. 1¾ Std., eine Pause
Im Programm bis: ?????

Mittwoch, 05.01.2011

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