Groß und Klein - kultur 46 - April 2008

Karussell der Einsamkeit - Groß und Klein von Botho Strauss in den Kammerspielen

Die nächtliche Hotelbar in Marokko sieht nicht viel anders aus als das ärztliche Wartezimmer, in dem Lotte am Ende ihrer Reise ankommt. Irgendein Frieder müsste sie doch auf einen Drink einladen, aber Lotte ist immer ungelegen oder falsch verbunden. Lotte passt nicht. Sie ist ungehörig und hofft auf Gehör. Sie ist eine verspätete Romantikerin und deshalb ungeheuer komisch.
Der Regisseur Ingo Berk lässt 30 Jahre nach der Uraufführung die zehn Stationen von Botho Strauss’ Drama Groß und Klein noch einmal Revue passieren und findet genau die Unwirtlichkeit der Orte wieder, an denen Lottes Lebensversuch scheiterte. Sie sind nur etwas grotesker geworden auf der raffiniert verschachtelten Drehbühne von Damian Hitz, die die ganze tragische Farce in Bewegung hält. Die fast einstündige Szene „Zehn Zimmer“ ist geradezu ein surreales Drama für sich mit seltsam zwischen Hauseingängen, Wohnzellen und steilen Treppen wiederkehrenden Figuren.
Nicole Kersten ist der gute Mensch Lotte, der durch die kalten Einsamkeiten wandert und überall stört. Sie spielt einfach wunderbar die Frau, die wie ein verirrter Engel in dieses Universum der unmöglichen Beziehungen und fremden Geschichten gefallen ist. Sie ist naiv und scharfsinnig, lieb und lächerlich, tapfer und hilflos. In ihrem großen Monolog „Falsch verbunden“ hockt dieses „Missliebchen“ mit verschmierter Wimperntusche vor dem großen Buch, zelebriert aus himmlischer Höhe ihre biblische Verzweiflungsarie und will sich doch nicht kleinkriegen lassen von den Verhältnissen, die die Unbedingtheit einer Lotte nicht vertragen. Sie ist eine zeitlose Träumerin und ein gerupfter „ekliger Engel“, der in Mülleimern wühlt. Es gelingt Kersten atemberaubend sicher, bei ihrer Lotte immer die haarfeinen Brüche zu zeigen zwischen Leiden, Selbstverlust, unerschütterlichem Glauben und Irrwitz.
Die Grafikerin Lotte aus Remscheid-Lennep ist auf der Suche nach ihrem Ex-Mann Paul, dem sie gelegentlich Briefe schreibt oder zudenkt. Paul (Bernd Braun) haust in einer schalldichten Dachkammer und ist möglicherweise auch der Arzt, zu dessen Sprechstunde Lotte sich nicht angemeldet hat. Tanja von Oertzen und Rolf Mautz vegetieren als freundliches altes Paar in einem Alzheimer-Refugium und halten peinliche Diavorträge vor einer bunt gemischten Wohngemeinschaft. Mautz taucht als Patriarch bei Lottes aasiger „Familie im Garten“ wieder auf. Alle spielen zahllose Rollen: Hendrik Richter glänzt u. a. als Lottes Bruder Bernd, überdrehter Musiker und Amtsverwalter Alf. Tatjana Pasztor gibt die bis zur Bewegungslosigkeit aufgepolsterte „Dicke Frau“ (Kostüme: Kathrin Stadeler) und die schrille Gattin des durchgeknallten Türken (Tugsal Mogul). Nina Vodop’yanova thront als Wrack von Lottes Schulfreundin Meggy isoliert an der Tür-Sprechanlage oder stolziert als geheimnisvolle „Frau im hochgeschlossenen Kleid“ zwischen Polsterwänden herum, wo Paul sie heimsucht. Arne Lenk und Katja Sieder sind als Nachwuchswissenschaftler auf Spurensuche, im trauten Familienkreis die Sylter Schnöselgeschwister und im Ruhrpott der Spielmannszug-Junge und das blasenschwache Mädchen. Fremde Patienten in einer heillosen Klinik Deutschland sind alle. Es bleibt hier allerdings die der späten 70er Jahre. Ein absurdes Satyrspiel zur längst vom Karussell der Beziehungslosigkeit überholten Tragödie der letzten „Gerechten“, denen der sie berufende Gott und die zu rettende Welt abhanden gekommen sind.
Kerngesund ist zweifellos das Bläsercorps des Musikzugs „Bergklänge“ aus Heisterbacherrott, das mit Begeisterung aufspielt zum Marsch durch die zweifelhafte Welt von Lotte. Wo war eigentlich das Problem? Wenn man bereit ist, diese Frage zu stellen, wird die lange Aufführung ein exquisites Vergnügen. E.E.-K.

Aufführungsdauer: ca. 3 ½ Std., eine Pause
Im Programm bis: ???

Sonntagsmatinée zu Stück und Inszenierung in Zusammenarbeit mit der Theatergemeinde am 6. April um 11.00 Uhr im Foyer der Kammerspiele.

Dienstag, 02.09.2008

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