Mydentity - kultur 99 - Oktober 2013

Das Junge Ensemble Marabu (JEM) in der Brotfabrik

Alles ist zu viel

„Als das Kind Kind war…“ – mit diesen Worten beginnt das vom Jungen Ensemble selbst entwickelte Stück, in dem sich alles um die Frage der Identitätsfindung in unserer komplexen und schnelllebigen Zeit dreht, und darum wie schwierig es heute für einen jungen Menschen ist, sich selbst treu zu bleiben – trotz oder gerade wegen der unbegrenzten Möglichkeiten, die er hat. Insbesondere im modernen Medienzeitalter ist es leicht, mit wechselnden Identitäten zu spielen, sich permanent zu verwandeln oder sich als jemand anderer auszugeben, als man eigentlich ist. Ob in Chatrooms, beim Bloggen oder bei Facebook – überall können wir mit unserer Identität spielen, sie verändern, anpassen, verstecken. Und auch die Billigklamottenindustrie macht es leicht, sich jederzeit für kleines Geld ein neues Outfit zu verpassen. So kommen die Spielerinnen und Spieler zu Beginn vollbepackt auf die Bühne: Säckeweise kippen sie die Früchte ihrer Shopping-Tour auf den Boden, wühlen sich durch ihre Errungenschaften, wechseln im Sekundentakt ihr Outfit (Kostüme: Regina Rösing) und präsentieren sich ebenso fix als jemand anderer. Andere Mimik, andere Gestik, neuer Mensch. Andere Wünsche, andere Bedürfnisse. Permanent müssen Entscheidungen getroffen werden, ob in Sachen Kleidung, Job oder Freizeitgestaltung. Ganz deutlich wird diese Form des modernen Stresses im Chat­room, den das Ensemble inszeniert: Mehr oder weniger sinnhafte Fragen und Statements zu allen möglichen Themen schwirren durch den virtuellen Raum, Einladungen zu Parties oder auch traurige Einsamkeitsbekundungen („Schreibt mir!“) – zu allem kann man Stellung beziehen, oder es lassen.
Das Spiel mit der Selbstinszenierung zieht sich wie ein roter Faden durch die Szenencollage. Ein Fotoshooting: eine junge Frau, sexy gestylt, perfekt ins Licht gerückt (Lichtdesign: Bene Neustein), die Windmaschine lässt ihr langes blondes Haar wehen… Der Traum aller jungen Mädchen, einmal ein Top-Model zu sein? Ein Mädchen, das abseits dieser Scheinwelt sofort ins Stolpern gerät. Diese Schuhe passen ihr einfach nicht. In dieser Szene ist sie ganz intensiv zu spüren, die Selbstentfremdung und Verlorenheit eines Menschen.
Dass das Rollenspiel also nicht nur Spaß bereitet und Freiräume eröffnet, sondern auch traurig machen oder Ängste schüren kann, sich in der Welt der unbegrenzten Möglichkeiten zu verirren, hat das JEM auf vielfältige Weise in Szene gesetzt:. „Wir sind die Generation, die alles hat, alles kann und alles darf.“ Aber: „Wer bist du, wenn dir keiner mehr zusieht, du allein bist? Wo sind deine wunden Punkte?“ Viele von uns haben aus dem Mund der Großeltern (der Kriegsgeneration) den Satz gehört: Ihr braucht auch mal eine Katastrophe, euch geht es zu gut! Nun kommt er provokant aus den Mündern der Darstellerinnen und Darsteller, fast ein Aufschrei: „Schickt uns eine Katastrophe, damit wir wieder von dem träumen können, was wir bereits alles haben!“ Statt innezuhalten werden Zukunftsängste durch immensen Konsum betäubt, wird die Ziellosigkeit durch Verplanung bis in die letzte Minute kompensiert – und immer bleibt das dumpfe Gefühl, irgendetwas nicht zu haben oder zu verpassen. So hetzen wir von Termin zu Termin, Geschäft zu Geschäft, Aufgabe zu Aufgabe. Das Leben ein Spiel?
Sinnfällig wird diese Frage auch im Bühnenbild: Optisch erinnert der Raum an eine Turnhalle: Auf dem Boden ist ein Spielfeld eingezeichnet, an den Seiten stehen Bänke für die Akteure, die gerade selbst nicht „im Spiel sind“, aber die anderen ständig beobachten. Eine Reihe Spinde rundet das Bild ab: Alle DarstellerInnen bzw. SpielerInnen haben ihren eigenen Schrank; jeder davon ist individuell ausgestattet. Öffnen sie ihre Tür, geben die darin befindlichen Gegenstände, Bilder oder Klamotten etwas mehr über die jeweilige Person preis. Das kann sehr witzig sein, wenn z.B. ein sonst völlig lethargischer junger Mann seine Spindtür öffnet und das Publikum mit lauter Rockmusik überfallen wird. Den jungen Mann scheint aber nichts mehr aus der Demotivation reißen zu können, er hat aufgegeben. Überfordert durch die Qual der Wahl an Möglichkeiten?

„Als das Kind Kind war…“ – neun junge Menschen auf der Suche nach dem eigenen Ich, mit einer großen Sehnsucht danach, irgendwann bei sich anzukommen. Der Szenenreigen kommt unter der künstlerischen Leitung von Tina Jücker und Claus Overkamp – trotz des Ernstes der Thematik – wunderbar humorvoll und temporeich daher, mit viel Spielfreude und Talent! Ein großes Lob an das Junge Ensemble Marabu, das sich mutig den Themen unserer Zeit gestellt hat und dem Image einer jungen Generation, die sich angeblich nur für sich selbst interessiert, ein anderes gegenüberstellt: einer Generation, die Fragen stellt und Angst hat, sich selbst zu verlieren. Der begeisterte Applaus war ehrlich und sehr verdient!
Ein Stück, das zum Nachdenken anregt und für alle Jugendlichen ab 14 Jahren geeignet ist, für Erwachsene sowieso! C. L.

Spieldauer ca. 60 Minuten,
keine Pause

Die Nächsten Termine:
26.+27.09.13
7.+8.11.13
13.+14.12.13

Dienstag, 12.11.2013

Zurück

Merkliste

Veranstaltung

Momentan befinden sich keine Einträge in Ihrer Merkliste.


Letzte Aktualisierung: 23.04.2024 14:01 Uhr     © 2024 Theatergemeinde BONN | Bonner Talweg 10 | 53113 Bonn