Der Kirschgarten - kultur 88 - Juli 2012

Der Kirschgarten von Anton Tschechow in den Kammerspielen: Abschiedstanz

Am Ende werden – per Video – die blühenden Bäume von brutalen Landmaschinen niedergewalzt. Dabei wollte die Eigentümerin des wunderbaren Kirschgartens nur endlos durchs Luxusleben tanzen, gedankenlos verschwenderisch und völlig blind für die Wirklichkeit. Leider ist die Familie restlos pleite. Das Geld einer ungeliebten Erbtante würde gerade mal für die Schuldzinsen reichen. Die schlichte Lösung wäre, das ganze Gut zu verkaufen und abzureißen, um Platz für Moskauer Sommerfrischler zu schaffen. Der geschäftstüchtige Lopachin, als Sohn eines Leibeigenen auf dem Gut aufgewachsen, bietet die nüchterne wirtschaftliche Rechnung fast schon auf dem Silbertablett an. Aber die Ranewskaja will nicht reden, sondern träumen. Das Angebot des neureichen Kaufmanns, der weder gesellschaftlich noch ökonomisch in ihre Scheinwelt passt, wird einfach ignoriert. Man feiert ausgelassene Partys, während der Familienbesitz zwangsversteigert wird.
Generalintendant Klaus Weise inszeniert die in Tschechows Todesjahr 1904 uraufgeführte Endzeitkomödie als melancholischen Tanz über dem Abgrund. Die subtil gezeichneten Figuren sind Vereinzelte, die monadisch aneinander vorbei laufen und eigentlich nichts voneinander wissen wollen. In dem kühlen, hellen Bühnenbild von Dorothea Wimmer, die auch die eleganten Kostüme entworfen hat, herrscht Beziehungslosigkeit. Nur Ralf Drexlers robuster Lopachin sucht wirklich Nähe und schafft’s konsequent nicht, die sehnsüchtig auf seinen Heiratsantrag wartende Stieftochter Warja als Mensch wahrzunehmen. Wunderbar klar spielt Louisa Stroux (nach etlichen Jahren wieder zu Gast in Bonn) diese junge Frau zwischen emotionaler Einsamkeit, hilflos tapferer Anpassung und tiefer Verzweiflung. Warja und Lopachin sind existenzielle Fremdlinge in der Amüsierwelt des untergehenden russischen Landadels. Sie wollen und müssen arbeiten. Drexler gelingt es zudem, seinen Lopachin zur vielschichtigs­ten Figur des Dramas zu machen. Der große Triumph des kapitalkräftigen Aufsteigers ist auch seine größte Niederlage. Er zerstört, was er liebt und bewundert.
Eher eindimensional bleibt die Ranewskaja der brillanten Katharina von Bock. Eine exquisite Schönheit kurz vorm Verblühen. Unerschütterlich in ihrer Lebenskünstler-Haltung, leicht hysterisch und gnadenlos oberflächlich. Eine solche Mutter vor sich selbst zu beschützen, ist eine harte Aufgabe für eine Tochter wie Anja. Lisa Guth gibt das ernste junge Mädchen, das am Ende mit dem äußerlich wenig attraktiven Hauslehrer und ewigen Studenten Trofimow (als ebenso eloquenter wie versponnener Idealist: Konstantin Lindhorst) ins aktive städtische Leben aufbricht. Auf jeden Fall dableiben wird Gajew, der nichtsnutzige Bruder der Ranewskaja, der in der Provinzbahnhofsgegend gern hübschen Knaben nachstellt. Bernd Braun spielt diesen typisch Tschechowschen ‚überflüssigen Menschen’ bravourös: ein verzogenes, ständig quengelndes großes Kind, das nicht erwachsen werden will und sich hinter der Maske des feinsinnigen Ästheten versteckt.
Arne Lenk macht aus dem Kontoristen Epichodow mit den peinlich quietschenden Stiefeln ein komisches Kabinettstück. Stefan Preiss ist der Gutsbesitzer Pischtschik: ein unverschämtes Pumpgenie, das seine leeren Taschen rücksichtslos zu füllen versteht. Birger Frehse als junger Diener Jascha gehört zur neuen Generation, die schamlos jede Gelegenheit nutzt, um sich als Herr aufzuspielen. Das Dienstmädchen Dunjascha (Anastasia Gubarova) vernascht er en passant und lässt das reizende Landei schnöde im Stich, wenn Pariser Verlockungen in Griffweite gelangen.
Einfach da ist Charlotta, die die Ranewskaja irgendwo als eine Art unterhaltsames Haustier oder Spielzeug aufgegabelt hat. Ein verwais­tes Luftgeschöpf, vollkommen haltlos und zuhause nur im Zirkus. Maria Munkert ist in dieser seltsamsten Rolle des „Kirschgarten“-Zirkels ein Ereignis. Ihre Charlotta hat keine Illusionen wie die anderen. Sie macht Illusionen, fasziniert mit Zauberkunststückchen und akrobatischen Nummern, immer ein bisschen abwesend und konzentriert auf den puren Schein. Sie balanciert auf einem Ball wie die flüchtige Fortuna und ist als Allegorie viel wirklicher als all die Gestalten, die sich der Wirklichkeit verweigern. Sie hat nichts zu sagen, keine Botschaft, keine nennenswerte Vergangenheit oder Zukunft. Sie ist die einzig echte Künstlerin in der verkünstelten Lethargie der grotesken Glückssucher.
Echt ist auch der alte Diener Firs, der wie ein Gespenst aus besseren Zeiten durch die Szenerie geistert. Ein unheimlich trauriger Clown, ganz zart verkörpert von Tanja von Oertzen. Man hat ihn vergessen, nachdem die Koffer gepackt sind für Moskau, Paris oder bescheidenere Aussichten in der Nähe. Firs schläft am Ende leise ein. Aus einem Halbschlaf aufgeschreckt ist am Anfang der tüchtige Lopachin. Die Zukunft gehört ihm. Aber was nützt ihm sein Pragmatismus ohne die verrückten Müßiggänger und den luxuriösen Blütenschaum des Kirschgartens? Die Inszenierung lässt alle Fragen offen und präsentiert Figuren, denen man gern bei ihren eigenartigen Lebensversuchen zuschaut. Was sich entschieden lohnt! E.E.-K.


Spieldauer ca. 2½ Stunden inkl. einer Pause
Wiederaufnahme am 13.10.12


Dienstag, 06.11.2012

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