Gut gegen Nordwind - kultur 79 - Oktober 2011

Gut gegen Nordwind von Daniel Glattauer im Contra-Kreis-Theater: Bildschirm-Beziehung

Eigentlich war’s nur ein Buchstabe zuviel: Eine gewisse Emmi Rothner wollte nur ihr Abonnement der offenbar ziemlich überflüssigen Zeitschrift „Like“ kündigen; ihre entsprechende E-Mail landete freilich auf dem Rechner eines gewissen Leo Leike, der sie höflich auf den kleinen Fehler hinwies. Womit die Gewissheiten auch schon aufhören, denn wer die beiden wirklich sind, werden sie trotz aller verbalen Bildschirm-Annäherungen nicht erfahren. Sie lesen sich und verraten zwischen den Zeilen genau so viel, wie sie wollen im virtuellen Raum zwischen Distanz und Nähe. Sie sind schließlich keine naiven Mediennutzer: Er untersucht als Sprachpsychologe in einem wissenschaftlichen Projekt die E-Mail-Kommunikation als Transportmittel für Emotionen, sie verdient ihr Geld mit dem Gestalten von Websites. Dass sie Leo Leike bei Google nicht findet, spricht nicht eben für seine akademische Reputation; inzwischen hat der charmante Typ aber eine beachtliche Internet-Präsenz. Deutlich größer übrigens als die von Emmi Rothner, was die Genderforschung alarmieren sollte…
Ihre Existenz verdanken Emmi und Leo dem österreichischen Autor Daniel Glattauer, der mit seinem 2006 erschienenen Roman Gut gegen Nordwind einen Überraschungserfolg landete und für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde. Es ist eine Fortschreibung des klassischen Briefromans ins elektronisch kommunizierende 21.Jahrhundert, in dem ein Maus-Klick den Postboten ersetzt und geheime Botschaften den Empfänger so schnell erreichen wie die über die Tastatur jagenden Finger. Über flinke Intelligenz und eine gehörige Portion Selbstironie verfügen Emmi und Leo (beide zwischen 30 und 40, also sprachlich jenseits der SMS-Krypto-Kürzel und Facebook-Intimität) ganz entschieden bei ihrem Mail-Wechsel. Sie formulieren flott, aber durchaus bedacht, und erwarten Antworten im Minutentakt, weil ihre sehnsüchtigen Herzen halt doch auf mehr als puren Text gepolt sind. Die glücklich verheiratete Emmi sortiert ihre Gedanken gern Punkt für Punkt, der ledige Leo pflückt ihre schlauen Konstrukte sanft auseinander und hat für weibliche Wutwortschwälle sauber passende Deckel.
Die Indirektheit des Direkten in dem witzigen Dialog bringt der Regisseur René Heinersdorff im Contra-Kreis-Theater brillant zum Leuchten. Bianca Karsten (Emmi) und Stefan Gebelhoff (Leo) sind ganz reale Bühnenkunstfiguren auf der Schnittstelle zwischen virtueller Selbstinszenierung und konkreter Liebesutopie. Sie genießen etliche gemeinsame Gläser Wein oder Whisky am einsam vor sich hin flimmernden heimischen Desktop und hoffen selbst auf dem Klo und unter der Dusche noch auf Signale ihres Laptops oder Handys. Sie landen weit voneinander entfernt im selben Bett, begegnen sich freilich nie. Sie sind normal-verrückte postmoderne Irrläufer im globalen Netz und fürchten sich deshalb vor dem Einbruch von natürlichen Stör-Elementen. Wie zum Beispiel dem Nordwind, der Emmis Kopf bis in die Zehenspitzen irritiert, weshalb Leo ihr ein Leselampen-Verlängerungskabel per PDF zukommen lässt.
Ihre Browser und W-Lan-Verbindungen bleiben relativ stabil, während die Leitungen langsam erotisch Feuer fangen in dieser unangefangen beendeten fragilen Liebesgeschichte. Emmi und Leo spielen hinreißend genau eine Möglichkeitsform der unmöglichen romantischen Liebe. Sie machen sich eine Vorstellung vom anderen und erproben sie gescheiterweise nicht an der Wirklichkeit. Ihre luftig heitere Liaison dangereuse ist anspruchsvolles Live-Theater vom Feinsten mit einem Unterhaltungswert, den man bei Suchmaschinen im Internet nicht oft findet. E.E.-K.
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Spieldauer ca. 2 Stunden inkl. einer Pause.
Im Programm bis 16.10.2011 täglich außer montags

Samstag, 04.02.2012

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