Pinocchios Abenteuer - kultur 102 - Januar 2014

Pinocchios Abenteuer in der Oper: Musiktheater zum Staunen

„Mach mich“ verlangt der Holzklotz vom Schnitzermeister Geppetto. So kommt der von dem italienischen Schriftsteller Carlo Collodi erfundene kleine hölzerne Bengel zur Welt, den seit mehr als hundert Jahren die Kinder in aller Welt unter dem Namen „Pinocchio“ kennen. Seine Nase ist ein bisschen zu lang und kann sich sogar auf fast einen Meter strecken, wenn das Kerlchen es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt. Vom Lernen hält der naseweise Pinocchio zwar viel, aber die Welt ist einfach zu aufregend, um seine Zeit auf der Schulbank zu verbringen. Der arme Geppetto verkauft sogar seinen Mantel, um für ‚sein Kind‘ ein Schulbuch zu erwerben. Das geht jedoch sofort drauf für den Eintritt in ein Puppentheater. Und so lässt sich der Lausejunge immer wieder ablenken und in neue phantastische Abenteuer verwickeln, bis er schließlich doch ein ordentliches Menschenwesen aus Fleisch und Blut wird.
Man kann seine Neugier nur allzu gut begreifen angesichts des schier unglaublichen Bühnenzaubers der Inszenierung des Briten Martin Duncan, der die Oper Pinocchios Abenteuer 2007 im englischen Leeds aus der Taufe hob. Dort entstanden auch die unzähligen phantasievollen Kostüme und Requisiten von Ausstatter Francis O’Connor, während in Chemnitz das Bühnenbild gebaut wurde, das hinter und unter scheinbar roh zusammengezimmerten Balken so viele Überraschungen bereit hält, dass es ständig was zum Staunen gibt. In Chemnitz, der früheren Wirkungsstätte des neuen Bonner Generalintendanten Bernhard Helmich, kam 2008 die deutschsprachige Erstaufführung des Werkes heraus, das nach Aufführungen in den USA und zuletzt in Moskau wahrscheinlich die meistgespielte Oper des 21. Jahrhunderts ist.
Die vielfarbige Musik des englischen Komponisten Jonathan Dove hört sich wirklich gut an. Für erfahrene Opernbesucher klingt viel Bekanntes durch, aber auch für Anfänger gibt es keine unüberwindlichen Hürden. Unter der Leitung des jungen österreichischen Dirigenten Johannes Pell, seit dieser Spielzeit als Erster Kapellmeister fest in Bonn engagiert, illustriert das mit fabelhaftem Elan spielende Beethoven Orchester das bunte Geschehen so präzis, dass sogar die Fühler der kecken Grille (entzückend: Stefanie Wüst) im Takt tanzen. Das liegt natürlich auch an dem Choreographen Nick Winston, der zusammen mit dem Regisseur Martin Duncan die Produktion auf ihrer Weltreise mit unterschiedlichen Ensembles neu erarbeitet hat und selbstverständlich hier in Bonn wieder für die Bewegungen sorgte. Bewegend ist die vielschichtige Musik mit ihren häufig solistisch eingesetzten Instrumenten und höchst anspruchsvollen Gesangspartien gewiss. Pinocchios Abenteuer ist jedoch kein Musical mit flotten „Hits“ zum Mitsingen oder Rhythmusgewittern für Pop-Fans. Es ist eine große Oper, die bei aller sinnlichen Erlebnisqualität nicht ganz einfach konsumierbar ist, sondern vom Publikum Konzentration und Lust an komplexeren Klangwelten erfordert.
An der opulenten Bilderwelt kann man sich indes kaum sattsehen. Ständig passiert etwas; immer neue Figuren tauchen auf: Tänzer, Akrobaten, allerhand Tiere. Kein Wunder, dass dem kleinen Pinocchio fast schwindlig wird bei seinen tollen Abenteuern. Zweifellos wunderbar ist das langjährige Ensemblemitglied Susanne Blattert in der Titelrolle. Die Mezzosopranistin meistert nicht nur ihre schwere Gesangspartie mit atemberaubender Leichtigkeit, sondern ist auch spielerisch ungeheuer präsent. Im Wortsinn, denn sie ist fast ununterbrochen aktiv auf der Bühne und die Identifikationsfigur für die jungen Zuschauer. Sie ist spitzbübisch frech und kindlich nachdenklich, bewegt sich herrlich hölzern in ihrem Puppenknaben-Kostüm und übersteht alle Gefahren völlig unbeschädigt.
Obwohl man manchen Gesellen besser nicht vertraut. Der junge Counter-Tenor Jakob Huppmann ist ein verdammt raffinierter Fuchs und in Begleitung des nicht ganz so schlauen Katers (Taras Ivaniv) zu einigen Schandtaten aufgelegt. Da ist es schon gut, wenn eine blaue Fee (mit kühnen Koloraturen: die Sopranistin Judith Kuhn) sich hilfreich einmischt. Der Bass Alexey Smirnow gibt virtuos diverse mehr oder minder düstere Gestalten, bei denen man nicht jedes Wort (gesungen und gesprochen wird auf Deutsch) verstehen muss. Ins Herz schließen muss man jedoch die Mezzosopranistin Anjara I. Bartz als perfekt artikulierende Schnecke mit einem skurrilen Häuschen auf dem Rü­cken, das allein schon eine Besichtigung lohnt.
Das Spaßland, in das der muntere Schüler Lampwick (unwiderstehlich: der junge Tenor Tamás Tarjányi) den braven Pinocchio entführt, sollte man trotz aller Vergnügungen vielleicht doch besser meiden. Denn da werden alle plötzlich zu Eseln.
Doch schließlich landet der Junge gerade noch rechtzeitig im Bauch eines Wals und findet seinen Papa Geppetto wieder. Boris Beletskiy ist in dieser Rolle der Sympathieträger des Stücks. Und Mitglied des Opernchors, der unter der neuen Leitung von Volkmar Olbrich ein Format entwickelt hat, das andere Häuser neidisch machen könnte. Fast alle Choristen sind solistisch eingesetzt, singen und spielen sich freudig durch alle Turbulenzen und bilden das solide Rückgrat der Geschichte, deren roter Faden sich manchmal etwas langatmig verstrickt im märchenhaften Gewirr der szenischen Einfälle.
Drei Stunden sind für Facebook-sozialisierte Kinder allerdings arg lang. Zur Verzauberung von Musiktheater-Erstlingen taugt die vergnügliche Aufführung freilich entschieden und hat das mit restlos ausverkauften Vorstellungen in London und Moskau längst bewiesen. Die Familienoper ist die aufwändigs­te Produktion der ganzen Saison, was ein schönes Zukunftssignal setzt. Den herzlichen Premierenbeifall genoss auch der anwesende Komponist. E.E.-K.

Spieldauer ca. 3 Stunden,
inkl. einer Pause
Die weiteren Termine: 26.12., 28.12.13, 11.01., 19.01., 25.01., 31.01., 9.02., 13.02., 8.03., 22.03., 29.03.14

Donnerstag, 30.01.2014

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